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Die WahrheitDie armen Armen

Lamento des Mittelstands: Wer sind eigentlich in der neuesten Krise die aktuell Bedürftigen? Und wer darf jetzt auf dem Gruppenmitleidsticket fahren?

Niemand möchte die Schuhe der Armen tragen Foto: AP

Bis vor Kurzem war es in fortschrittlicheren Kreisen des Bürgertums in Mode, Sympathien für die Arbeiterklasse, oder was man dafür hielt, zu heucheln. Stolz ließen sich Besserverdienende Arm in Arm mit Arbeitern und sogar Arbeitslosen vor Arbeiterdenkmälern, Fabriken oder Jobcentern ablichten, boten ihnen das Du an und drückten ihnen – der Gipfel der Peinlichkeit – nach erfolgter Fo­to­ses­sion in unbeholfen imitierter Leutseligkeit ein Geldstück in die Hand. Seht her, sollte das heißen, wir haben keinerlei Berührungsängste mit rauen und ehrlichen Menschen. Junge Leute trugen zum Zeichen der Solidarität grob karierte Hemden, Holzschuhe oder Hosenträger. In gebildeten Kreisen wurde sogenannte Arbeiterliteratur gelesen, wenngleich man diese weder mochte noch verstand.

Der Trend verstärkte sich noch während der Coronapandemie, als es bei jeder Cocktailparty zum guten Ton gehörte, in der Ausübung ihres Berufs gestorbene Supermarktkassiererinnen lobend zu erwähnen, ähnlich wie auch Biologen die Bedeutung von Geiern, Mücken oder Wespen für den Kreislauf der Natur betonen.

Doch spätestens unter dem Druck von Inflation und explodierenden Heizkosten wird nun die nächste arme Sau durchs Dorf gejagt. Denn nach „den Arbeitern“ entdeckt die Bourgeoisie „die Armen“. In ihnen spiegeln sie ihre eigenen kleinen Nöte wie steigende Champagnerpreise, die energiebedingte Pleite des exklusiven Herstellers von achtlagigem Klopapier und, nicht zu vergessen, das zermürbende Einzelsockenproblem!

Dummy für Gefühle

Denn weil kaum jemand Verständnis für jammernde Reiche und deren Ängste zeigt, präsentieren die einfach einen Dummy, auf den sich das Mitgefühl der Mehrheit besser projizieren lässt. Auf diesem Gruppenmitleidsticket fahren sie dann bequem mit: „O Gott, wer denkt in dieser Situation bloß an die armen Armen“, sagen sie, „wie sollen die sich das denn leisten?“, und meinen dabei doch nur sich selbst.

„Die Armen“ sind für sie in der Energiekrise das, was in der Pandemie die „alleinerziehenden Mütter“ waren, lebende Schutzschilde im Trommelfeuer der sozialen Überforderung. Haben diese beliebig austauschbaren Joker im großen Bullshit-Rommé wie auch „die Pflegekräfte“, „die Schüler“ oder „unsere Frauen“ ihre Schuldigkeit getan, verschwinden die nützlichen Idioten wieder in der Mottenkiste.

Denn, Hand aufs kalte Mittelklasseherz, wer interessiert sich schon wirklich für die Armen, außer allenfalls sie selbst? Schließlich gibt es nichts Deprimierenderes als Arme: sind arm, haben kein Geld, kaufen nichts, unternehmen nichts und verbreiten obendrein noch miese Stimmung. Leute, lacht doch mal!

Wie soll man denn in dieser bedrückenden Atmosphäre noch eine leckere Auster, einen zauberhaften Abend mit einer stilsicheren und klugen Escort-Dame, den warmen Wind im offenen Haar bei der sommerlichen Ausfahrt mit dem Porsche Cabrio, ja überhaupt irgendetwas in Ruhe genießen?

Da möchte selbst dem sonnigsten Gemüt der Appetit vergehen, wenn ihm die Armen im Außenbereich eines Edelrestaurants sabbernd und mit leeren Augen über die Schulter blicken. Das ist also der Dank dafür, dass man die Grattler großzügig mit in seine Abendgebete eingeschlossen hat, dabei hätte man das gar nicht tun müssen.

Anklage an Fensterscheibe

Im Winter werden die Nasen dann gern in stummer Anklage fratzenhaft von draußen an die kalte Fensterscheibe gepresst (denen hätte man jetzt übrigens wirklich gut was geben können, doch das nur ganz am Rande). Der Anblick der blassen, schrundigen Gesichter, ausgemergelten Girokonten und nicht selten fehlenden Körperteile ist jedenfalls eine einzige Zumutung.

Im Grunde müsste man das schamlose Treiben verbieten. Die Einhaltung des Verbotes muss natürlich überwacht werden, denn gerade Arme sind dafür berüchtigt, dass sie es mit Regeln oft nicht so genau nehmen. Da wird hier vor einer Bar eine scheinbar herrenlose Craftbeer-Pfandflasche einfach eingesackt und dort frech mit Bürgergeld aufgestockt, obwohl man doch einen florierenden Vollzeitjob als Friseur, Lyrikerin oder Taxifahrer ausübt.

Doch die Schutzleute tun nichts, um den braven Steuerzahler zu beschirmen, von dem sie ja immerhin bezahlt werden. Kein Wunder, dass die Steuermoral auch bei den Anständigen sinkt, denn der arg bedrängte Mittelstand mit seinen eng bemessenen Jahreseinkünften zwischen zweihunderttausend und zwei Millionen Euro trägt nun mal seit jeher die Hauptlast. Und irgendwann haben die Melkkühe der Nation genug davon, das ganze Land mit frischer Sahne zu versorgen.

Das ist völlig legitim, und sicher mit ein Hauptgrund dafür, dass sich die Aufmerksamkeit bereits in naher Zukunft immer mehr von den Armen weg- und zu „den Vulnerablen“ hinverlagern wird. Wer denkt denn bislang eigentlich an die?

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11 Kommentare

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  • taz: "... denn der arg bedrängte Mittelstand mit seinen eng bemessenen Jahreseinkünften zwischen zweihunderttausend und zwei Millionen Euro trägt nun mal seit jeher die Hauptlast."

    Der ehemalige BlackRock-Lobbyist und derzeitige CDU-Chef Friedrich Merz hat ja auch vor Jahren gesagt, dass er zur Mittelschicht gehört - zwar zur 'gehobenen' Mittelschicht, aber dennoch "nur" zur Mittelschicht.

    ***Friedrich Merz - Kandidat der gehobenen Mittelschicht | extra 3 | NDR*** www.youtube.com/watch?v=cbLrMY0Vd7E

    taz: "Stolz ließen sich Besserverdienende Arm in Arm mit Arbeitern und sogar Arbeitslosen vor Arbeiterdenkmälern, Fabriken oder Jobcentern ablichten, boten ihnen das Du an und drückten ihnen – der Gipfel der Peinlichkeit – nach erfolgter Fotoses­sion in unbeholfen imitierter Leutseligkeit ein Geldstück in die Hand."

    Ja, wie m Mittelalter, wo die Fürsten ein paar Goldstücke in die arme Menge warfen und sich über die armen Leute amüsierten, die sich darum balgten. Geändert hat sich seitdem leider nichts, außer dass die Reichen sogar mit der Zerstörung des Planeten Erde noch viel Geld scheffeln.

  • Schön ironischer Kommentar, ich wusste gar nicht, dass ich mit meinem Jahreseinkommen somit zu Prekariat gehöre, lach, aber mal weg vom Spott auf Kosten der wirklich Bedürftigen in unserem Land.



    Lieber Kommentator, falsche Zeitung, wirklich falsche Zeitung ! Das Ding so wie geschrieben einfach mal in die "Welt " oder noch besser, "Focus online "stellen, auf das Gejaule, was dann hinterher kommt, da lach ich mich gedanklich jetzt schon krumm.

  • Warum sollen die Sorgen des Mittelstand denn nicht ernst gemeint sein? Die Probleme die unsere Regierung verursacht sind doch sichtbar für jeden.

  • @ alle anderen Kommentator_Innen



    Ich glaube Mittelstand ist hier eher ironisch gemeint und es geht um Leute die ab 200k im Jahr verdienen, sich trotzdem noch als Mittelstand bezeichnen (und fühlen) und in dieser Einkommensliga nicht soviele Nachbarn mit Geldproblemen haben.

    • @E Witzelian:

      Jep!

  • Kanzler Scholz fährt doch sicher als erster auf dem Armutsticke, oder? Der arme Mann kennt ja noch nichtmal die Preise!

    youtu.be/BtezTQv66kM !

    Vom Mittelstand war der ja angeblich noch weit entfernt, da war er noch gar kein Kanzler, nur Finanzminister:

    youtu.be/nfBf9riVWaM !

    Ich finde wirklich, der Mann braucht dringend Hilfe und kann einem total leid tun…

  • Dann bin ich sehr, sehr gerne Mittelstand 👍

  • Also bei 200000 fängt der Mittelstand an?



    Gut, das die Daten was anderes sagen.



    Das sind schon reiche.

  • 1G
    14231 (Profil gelöscht)

    Jahreseinkommen von 200.000 bis 2.000.000 Euro sollen mittelständisch sein? Ich habe das Gefühl, da will sich jemand aus dem Mittelstand rausdefinieren. Denn Mittelstand sein, das ist ja überhaupt nicht hip.

    • @14231 (Profil gelöscht):

      Mittelschicht ist so ein schöner kapitalistischer Kampfbegriff. Keiner kann genau sagen wo sie anfängt oder wo sie aufhört, weil man oder frau die Zahlen einfach interpretiert wie nötig, aber egal was diese "Mittelschicht" auch sein mag, sie muss verteidigt werden, weil es sonst ganz schlecht um die Gesellschaft bestellt ist. 😉

  • Ich bin Mittelstand und ich meine es ernst, wenn ich mir, z. B. in Sachen Heizungsgesetz in der Form des ersten Entwurfes, Sorgen mache, wie manche Leute das bezahlen sollen. Leute, die wirklich deutlich weniger verdienen als mein Mann und ich. Oder Leute, die sich ihr Häuschen nie hätten leisten können, wenn sie's nicht zufällig geerbt hätten. Dass das Einkommen bei zwei Vollzeitjobs mal gerade reicht, das Häuschen mit der bedauerlicherweise alten Heizung zu halten- solche Fälle soll's ja geben. Mir kann der ganze Zinnober eigentlich egal sein, wir Beide sind verbeamtet, unkündbar, gut bezahlt und kinderlos, unsere Gasheizung, hocheffizient, ist noch keine zwei Jahre alt. Wir hätten trotzdem schon länger eine Solaranlage, evtl. mit Wärmepumpe im Kombimodell mit der Gasheizung. Leider lehnt unsere WEG bisher alle solche Anträge regelmäßig ab. Unsere Reihenhausanlage in Brandenburg gehört mehrheitlich einer bayerischen Firma, die will nicht mehr gross investieren, bevor sie die Häuser alle verkauft hat und hat ein bisschen "Angst" davor, dass ihre Mieter vorher vielleicht auch eine fossilreduzierte Heizung haben wollen, wenn wir uns eine einbauen. Warum das zum Thema des Artikels gehört? Es gibt in unserer Gegend in brandenburg eine Reihe von Menschen, die das, was sie nach der Wiedervereinigung (wieder) aufgebaut haben, tatsächlich mal eben so halten können (oder ihre Kinder nach dem Erben). Die da nicht so entspannt drauf gucken können wie wir, die wir uns für uns selbst nur über die ewige Gängelei ärgern, das allerdings reichlich. Ich hab" das mit der Sorge um diese Leute ernst gemeint. Tue ich noch. Schade, nach dem Artikel zu schließen, müsste ich das als "anständiger Mensch", der ich wohl sowieso nie werden kann, eigentlich unterlassen. Weil - ich bin ja Mittelstand und heuchele sowieso immer nur. Offensichtlich.