Die Wahrheit: O, du kleine leckere Sterbehilfe!

Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (16 und Ende): Wenn gar nichts mehr hilft, dann das Fasten, das übersinnliche Erkenntnisse bringt.

Teller mit Reis, fast leer

Wenn Schmalhans als Küchenmeister eingestellt wird, gibt es nur sehr spärliche Kost Foto: Reuters

Als ich es kürzlich erneut nicht innerhalb einer Grünphase über die Fußgängerampel schaffte, ließ es sich nicht mehr abstreiten: Ich war dabei, rundum abzukacken. So lautete auch die ­exakte Diagnose meines Orthopäden: akutes Abkacken mit chronisch-progredientem Pfeifen aus dem letzten Loch. Konventionelle Heilmethoden wie Ignorieren, Verleugnen oder Drauf-Scheißen hatten versagt. Jetzt blieb mir wohl nur noch das krasseste Instrument unter allen Regenerationsmaßnahmen diesseits der Sterbehilfe: Ich musste eine Fastenkur einlegen.

Im Internet versprachen Seiten, die ich normalerweise nicht mit der Kneifzange angesehen hätte, die reinsten Wunderdinge: Reinigung des Körpers und des Geistes, Entwicklung eines „Bewusstseins für die eigenen Verhaltensmuster der Gier und Anhaftung“ und in der Folge „Dankbarkeit, Bescheidenheit, und Achtsamkeit“. Nichts würde mehr sein, wie es war, säuselten salbungsvoll die Hungergurus, deren Netzperformance durch die Bank eine unangenehme Düseligkeit einte. Ich möchte nicht, dass man so mit mir spricht.

Aber vielleicht war ja genau das mein Problem – ich musste es eben erst schätzen lernen, den Anhaftungen (Kaugummis, Lindenblüten, Hundescheiße?) zu entsagen, mich zu öffnen und den Zugang zu meiner Seele zu finden. Ohnehin ließ mir der körperliche Leidensdruck keine andere Wahl. Also wurde ein neuer Küchenmeister namens Schmalhans eingestellt, und schon nach kurzer Zeit schoben sich nebenbewusste Reize mit aller Macht in den Vordergrund.

Auf einmal konnte ich alle Farben ganz deutlich sehen: Gelb, Grün, Blau, Rot. Es war ein wahres Wunder! Nur Schwarz und Weiß nicht, aber das sind ja keine Farben, deshalb war auch das vollkommen logisch. Alles war zum Heulen herrlich logisch! Wie wundersam sich die Dinge fügten, ein Tetris der Erkenntnisse, und welch ungeahnt zauberliche Saiten doch das Heilfasten in mir zum Klingen brachte. Rot, Blau, Grün, Gelb – es war schier nicht zum Aushalten.

Überschwemmung im Gehör

Apropos „zum Klingen“: Überdeutlich vernahm ich nun auch sämtliche Geräusche, die es gibt: Bimm, Bamm und Bumm. Alle drei Geräusche überschwemmten mein Gehör, mein Gehirn, meine Wahrnehmung dammbruchartig mit ihrem Bimm, Bamm und Bumm. Vor allem das Bimm hatte ich bisher immer nur sehr leise gehört, wenn überhaupt. Jetzt bimmte es wie verrückt, wenn es nicht gerade bammte oder bummte.

Zeichnung: Rattelschneck

Brauche ich da überhaupt noch zu erwähnen, dass ich plötzlich alle Gerüche messerscharf roch? Eigentlich nicht, aber ich tue es dennoch, um dem inflationären Sinnesreichtum ein stilistisches Äquivalent zur Seite zu stellen: ein Feuerwerk aus Redundanzen, Wiederholungen, Selbstverständlichkeiten und glamourös langweiligen Erklärbärschleifen. Ich roch den Duft so eindringlich wie den Gestank. Der Duft duftete mehr noch als gewöhnlich, der Gestank stank stärker denn je. Oder bildete ich mir das bloß ein?

Nein, es konnte nur eine direkte Auswirkung des Fastens sein. Schließlich hatte ich schon seit dem Frühstück bis auf zwei ambulante Bockwürste nichts mehr gegessen, und es war bald schon Mittag. Jetzt verstand ich die Mönche und Fakire. Ich fürchte, ein bisschen verstand ich in dem Moment auch Hitler, aber da bin ich mir im Nachhinein nicht sicher, denn der Hunger machte mich schier wahnsinnig. Gleichzeitig quoll mir die Erleuchtung aus jeder Pore, und nicht für möglich gehaltene, transzendentale Bewusstseinszustände stellten sich ein.

Bei der Lektüre der Tages­zeitung fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das war doch alles völliger Quatsch. Alles, was irgendwo passiert. Denn das einzig wichtige Thema, das sich mir stellte, war doch, wann ich endlich wieder etwas Vernünftiges zwischen die Kiemen bekam. Und ich fürchtete fast, das würde nicht so bald sein, wenn ich den Begriff „Fasten“ dahingehend deutete, dass man eben fast nichts zu sich nimmt: wenig Schweinefleisch, wenig Bier, auch kaum Zigaretten. Heroin ist komplett tabu. Geflügel und Wein sind okay, gern auch ­Geflügel in Weinsoße – au ja, das sollte es gleich zu Mittag geben.

Kombinationen des Asketen

Der Asket kombiniert ja auch ganz gern, das ist eine seiner wenigen verbliebenen kleinen Freuden. Allen anderen hat er entsagt, um die neurobiologischen Effekte des Extremverzichts abzuschöpfen. Diese quasi körpereigene Droge hilft ihm dabei, „Mitgefühl für Lebewesen zu entwickeln, die dazu gezwungen sind, zu hungern und deren Durst nie gestillt wird“ (O-Ton Esoportal).

Das kann man sich eins zu eins wie bei bekifften Jugendlichen vorstellen, die bei irgendwem zu Hause abhängen, und da steht eine total vertrocknete Yuccapalme rum, und einer labert so verstrahlt los, „ey, guckma, die arme Ananas, die muss doch voll krass craven“, und alle kichern und kippen ihre Club-Mate-Reste in den Pflanzenkübel.

So in etwa sah die Loslösung von alten Verhaltensmustern und die Kultivierung neuer, positiver Muster auch bei mir aus. Für den Coq au Vin begann ich, die zerteilte Poularde in Mehl zu wenden, und naschte zwischendurch großzügig vom Burgunderwein. Doch beinahe noch mehr als auf den weinseligen Hahn freute ich mich auf die Leichtigkeit und Klarheit, die mir die nächste Fastenphase zwischen Mittagessen und Kaffeetafel schenken würde.

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kari

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