Die Wahrheit: Das Alphabet des Scheiterns
Das muss griechischer Humor sein: Aus den Tiefen der Erinnerung steigt das vergessene Wissen eines außergewöhnlichen Knirpses empor.
F rühkindliche Bildung kann ewig nachwirken. Als ich drei Jahre alt war, hatten wir eine Zeit lang griechische Nachbarn, die sich einen Spaß daraus machten, mir das griechische Alphabet beizubringen. Ich konnte es bald so gut, dass ich mich gern freudestrahlend vor meine Familie hinstellte und es rasend schnell herunterrasselte. Die Nachbarn lachten sich jedes Mal schlapp über den kleinen Sprachakrobaten. Noch heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, kann ich die 24 Buchstaben aus dem Kopf in handgestoppten sechs Sekunden abspulen: „Alpha, Beta, Gamma, Delta …“
Die Buchstabiererei kam kürzlich aus den Tiefen der Erinnerung wieder hervor, als es in einem Rätsel um die Frage ging, was eine Sportfirma mit dem griechischen Alphabet zu tun habe. Die Antwort: Kappa ist der Name eines Sportausrüsters und der zehnte Buchstabe im Griechen-Abc. Aus einem kindischen Impuls heraus musste ich es plötzlich im Affenzahn herunterrattern und wurde von meiner Familie angesehen, als ob ich ein Mondkalb wäre. Als ich es auch noch wiederholte und die Stoppuhr dabei laufen ließ, hielten sie mich endgültig für einen Marsianer auf Ecstasy.
Der Stolz über eine weitere meiner abseitigen Fähigkeiten wich allerdings bald einem Gefühl der Scham. Ich überprüfte nämlich noch einmal langsam mit Hilfe eines Wörterbuchs die genaue Abfolge und stellte fest, dass ich zwar sämtliche Buchstaben korrekt wiedergegeben hatte, sie jedoch in Gruppen verschoben waren – als ob das Abc ein Acb wäre. Mittendrin stimmte gar nichts.
Bis dato war mir mein durcheinander geratenes Griechen-Alphabet nie aufgefallen. Hatte ich es im Alter schlicht verlernt? Dafür saß es zu sicher und fest im Gedächtnis. Hatte ich es mir damals bereits fehlerhaft angeeignet? Ein Verdacht keimte in mir auf: Könnte es sein, dass die griechischen Nachbarn es mir absichtlich falsch beigebracht hatten? Galt also ihr Lachen nicht der für ein Kind außerordentlichen Leistung, sondern der diebischen Freude darüber, mich auf den Holzweg des Wissens gelotst zu haben?
Wie gemein dem unschuldigen Jungen gegenüber, empörte ich mich und würdigte zugleich anerkennend den Streich ganz alter Schule, der großes Vergnügen bereitet haben muss – noch ohne „Kappa“, dieses inzwischen berühmte Emoji, mit dem im Internet heutzutage ein sarkastischer, nicht ernst gemeinter oder doppeldeutiger Inhalt markiert wird.
Das muss hellenischer Humor sein, geschult über antike Zeiträume hinweg. Wahrscheinlich sitzt noch immer einer der früheren griechischen Nachbarn auf einen Stock gestützt am Hafen seiner Heimatstadt und erinnert an den ach so hellen Knirps in Germania, den sie seinerzeit hinters Licht geführt haben: „Wisst ihr noch? Der Kleine und das falsche Alphabet?“ Und dann lachen diese Griechen, bis das Meer vor Freude blau blitzt.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!