Die Wahrheit: Niemand hat die Absicht …
… Maurer zu erziehen. Dumm, wenn man aus dem Akademikerhaushalt zum Handwerk wechseln möchte, aber die Mauern in den Köpfen zu hoch sind.
M eine Familie besteht schon seit Jahrhunderten ausschließlich aus Akademikern. Mein Urururgroßvater war Hofastronom, allerdings nicht beim Kaiser oder einem hohen Adligen, sondern bei Hermann dem Einfältigen in der Grafschaft Nidda zu Ziegenhain, ein Onkel x-ten Grades wiederum ist bis heute in Biesdorf bei Berlin bekannt, weil er die Hymne zum ersten Biesdorfer Blütenfest auf die Melodie von „God Save the Queen“ schrieb.
Erwartbar geschockt war meine Familie, als ich verkündete, ich wolle nicht studieren, sondern Maurer werden. Es drohe doch Statusverlust. Ich müsse ja nicht Kirchenmusik studieren, aber doch wenigstens Medizin oder Jura? Des weiteren könne man bei Fragen zur gesetzlichen Krankenkasse nicht helfen, sagte meine Mutter.
Aber meine Entscheidung stand fest. Ein Freund der Familie, der erst studiert, dann aber doch Tischler, wenn auch Kunsttischler, gelernt hatte, organisierte mir einen Ausbildungsplatz, meinen ersten Auftrag hatte ich im Jagdschloss eines entfernten Onkels.
Wenig hilfreich zeigte sich mein Vater, von Beruf Metaphysiker. Er versuchte, über das Konzept Mauern und Maurer derart intensiv nachzudenken, dass er sich die Essenz gleichsam erschließen und das Fach grunderneuern, wenn nicht gar revolutionieren wollte. Jedoch die einzige neue Mauer, die dabei entstand, war die in seinem Kopf, und er musste sich mehrere Tage davon erholen. Meine Schwester, eine recht bekannte Musiktherapeutin, half mir da schon mehr. Sie stellte mir gleich zu Beginn meiner Karriere eine Playlist zusammen, von der sie sicher war, dass die Musik beruhigend und trinkgeldfördernd bei aufgebrachten Maurerkunden wirke. Und es funktioniert: Läuft die Musik, bieten mir die größten Griesgrame Kaffee an, und die schlimmsten Knauserer sind unerwartet großzügig, mache ich nur schnell meine Arbeit, gehe und nehme meine Playlist mit mir. Neben Kaffee wird mir auch Bier offeriert; ich lehne es auf Mutters Anraten jedoch stets ab. Als Theaterintendantin weiß sie, dass auch ein Beruf eine Geschichte hat, inszeniert werden will, und ein zentrales Narrativ braucht. Bei mir hat sie „Perfektion“ ausgemacht, Bier würde dieses Narrativ doch stark brechen.
Am besten geholfen hat mir jedoch mein Bruder, der Religionswissenschaften studiert und dann die Seiten gewechselt hat und Mystiker geworden ist. Er hilft mir ganz pragmatisch, indem er mir Großaufträge seiner vermögenden Kundschaft vermittelt, die in verwunschenen Schlössern oder alten Herrenhäusern wohnt – natürlich sind allesamt umfassend sanierungsbedürftig. Tatsächlich läuft mein Geschäft nun derart gut, dass ich kaum noch selbst auf dem Bau arbeite, sondern vornehmlich unternehmerisch tätig bin. Derzeit überlege ich sogar, BWL zu studieren. Da allerdings, so meine Familie, höre der Spaß für sie auf.
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