Die Wahrheit: Wohnraum ohne Wampe
Neues vom Tiny-House-Trend: Hausen auf engstem Raum wird zu Recht derzeit immer beliebter.
„Um die Schultern ist es ein wenig eng, am Bauch spannt es noch, aber die Wampe verschwindet ja sowieso bald, wenn die Lebensmittel noch teurer werden.“ Steve Schütz lacht kurz und bitter auf. Er ist gerade in seine neue Wohnung gezogen, ein Tiny House. Nach der Immobilienkrise im Jahr 2007 wurde Tiny Housing in den USA zum heißen Trend und breitete sich von dort mit jeder neuen geplatzten Immobilienblase immer weiter um die Welt aus.
Menschen, die sich keine Mietwohnungen mehr leisten können, greifen auf preiswerte Alternativen zurück. So auch Steve Schütz. In seinem Tiny House kann er in aller Ruhe im Homeoffice arbeiten, ohne von der Toilette aufzustehen, während er sich parallel dazu Essen kocht. „Das Bett ist ausklappbar, da falte ich mich abends gemütlich rein.“
„Wohnraum wird immer teurer“, sagt Horst Pätzold vom Verband Deutscher Immobilienbesitzer, „besonders weil in vielen Wohnungen, die 100 Quadratmeter und mehr haben, arme, alte Menschen mit Mietverträgen von Anno Kaiser leben, die reichen Großfamilien schlicht den Platz wegnehmen.“
Um solche Wohnpaläste muss sich der prekär entlohnte Schütz zum Glück nicht kümmern. Für sein vier Quadratmeter großes Tiny House, das auf einem Parkplatz vor seinem bisherigen Wohnhaus steht, zahlt er monatlich nur 500 Euro, statt der Warmmiete von 650 Euro für seine ehemalige viel zu große 80-Quadratmeter-Wohnung. Heizkosten entfallen, da es eh keinen Platz für einen Heizkörper gibt, aber das Haus steht sehr sonnig.
Gute Erfahrungen
Der Strom kommt aus der Steckdose und der wiederum von der Solaranlage auf dem Dach. Das genügt, um sich morgens einen Kaffee und abends eine Tütensuppe warmzumachen. Für ein Mehrgänge-Menü ist sowieso kein Geld vorhanden. Wenn Steve Schütz lecker essen oder aufrecht stehen will, besucht er Freunde. Schütz’ geringe „Miete“ geht allerdings nicht an einen Vermieter, sondern an die Bank, um einen Kredit abzubezahlen, denn Tiny Housing ist in Deutschland vor allem Wohneigentum. In acht Jahren gehört das Häuschen dann ihm. Bis dahin ist der gelernte Krankenpfleger vielleicht schon neben das Jobcenter in Berlin-Köpenick gezogen. Dort hat man gute Erfahrungen mit Tiny Houses gemacht. Zehn dieser stapelbaren Häuschen stehen bereits auf dem ehemaligen Parkplatz des Jobcenters – und es sollen mehr werden.
„Unsere Kunden finden diese Lösung gut“, sagt Reinhald Lang, der das Center leitet. „Dank der kurzen Wege zwischen Wohnung und Jobcenter kommt es so gut wie gar nicht mehr zu Terminversäumnissen. Außerdem haben die meisten eh kein Auto. Und wenn doch einmal jemand nicht zum Termin erscheint, können die Kollegen schnell mal rüber gehen und anklopfen.“
Sobald dann ein Kunde an den Arbeitsmarkt vermittelt werden kann, wird er mitsamt dem Winzhaus zum neuen Arbeitsplatz transportiert. Große Firmen bieten diesen Service kostenlos an und erheben nur eine „kleine Gebühr“, die vom ersten Lohn abgezogen wird. „Bei Bedarf können die Bewohner auch in ein anderes Land gebracht werden, etwa, wenn der Asylantrag abgelehnt wurde oder die Arbeitserlaubnis abgelaufen ist“, ergänzt Lang. Abends noch in Deutschland, wacht man morgens schon im Heimatland auf. Das ist preiswerter, risikoärmer und humaner als die teuren Abschiebeflüge, die meist von Aktivisten sabotiert werden.
Trend aus Fernost
Es geht aber noch kleiner. Eine Firma aus dem Schwäbischen bietet Wohnkojen an und folgt damit einem Trend aus Japan. Dort leben die Menschen in sogenannten Waben- oder Schließfachhotels, wo sie in winzigen Schlafkapseln übernachten. Bei einem 12- bis 16-stündigen Arbeitstag ideal. „Wenn man den ganzen Tag nicht zu Hause ist, braucht man auch keine Wohnung“, sagt Herbert Klein, Eigentümer der Firma Klein-Häusle in Berlin-Mitte. Steve Schütz legt sich schon mal probehalber in die Koje, die an einen Sarg erinnert und eine erstaunliche, beinah ewige Ruhe bietet, wenn man den Deckel zuklappt.
„Von der Grundform her stimmt das natürlich“, sagt der gelernte Tischler Klein, der früher ein Bestattungsunternehmen geführt hat, „aber man kann das alles auch freundlicher gestalten, mit ein bisschen Farbe. Außerdem gibt es Luftlöcher, und man kann die Koje von innen abschließen.“ Gegen Aufpreis ist der Einbau eines Bildschirms möglich.
Für Menschen jenseits der Erwerbstätigkeit bietet Klein zusammen mit der Seniorenheimkette Sonnengarten ein weiteres Modell an. Die Alten werden in umweltfreundliche Kunststofffolien eingeschweißt, die Versorgung erfolgt über ein Schlauchsystem: „Verstirbt ein Mieter, kann er problemlos auf dem nächsten Friedhof beigesetzt werden.“
Steve Schütz klappt den Deckel wieder auf, wegen der feuchten Witterung klemmt dieser ein wenig. „Und es drückt am Bauch“, lacht er. Aber die Wampe kommt ja demnächst sowieso weg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“