Die Wahrheit: Lutschen bis zur Halskrause
Rückblick im Zeichen der Energiekrise: Die Brikett-Affäre des Wolfdietrich Kupsch von 1962.
Als der Skandal der frühen sechziger Jahre gilt die heute weitgehend vergessene „Brikett-Affäre“. Ausgelöst wurde sie vom Berliner Schriftsteller Wolfdietrich Kupsch. Der Autor des Kritikererfolgs „Juckende Jungs“ (1958) und dem ebenfalls bei Suhrkamp erschienenen Kriminalroman „Mist, die Katze schnurrt ja noch“ (1960) hatte im März 1962 in der RIAS-Sendung „Das Wort“ angekündigt, dass er auf seiner nächsten Lesung – „anstatt da bloß wieder nur stumpf was vorzulesen“ – ein Steinkohlebrikett „weglutschen“ wolle. Und zwar komplett, wie er betonte.
Wenn ihm das aber nicht innert einer Stunde gelänge, so teilte der gebürtige Ostpreuße (Jahrgang 1939) mit, würde er in der zweiten Stunde der im legendären Gurkenkeller am Charlottenburger Savignyplatz anberaumten Veranstaltung tausend Mal den Satz „Ich werde nie wieder behaupten, in nur einer Stunde ein Brikett weglutschen zu können“ deklamieren.
Als dort Kupsch dann weder das eine noch das andere richtig hinbekam und deshalb etliche Zuhörer das Eintrittsgeld (6 Mark) zurückverlangten, wurde der als vierschrötig verschriene Literat erst verbal ziemlich ausfällig („Drecksfotzen, dreckige“) und anschließend so handgreiflich, dass einige Personen teils schwer verletzt wurden, darunter die bekannte Lyrikerin Hilde Schnurre, der Dramatiker Yaak Karsunke und der „Gruppe 47“-Preisträger Matthias „Matze“ Wollzock. Erst durch das beherzte Eingreifen des Verlegers Tankwardt Trost (Edition Glutamat) konnte Kupsch überwältigt und in seine Wohnung in der Mommsenstraße verbracht werden.
Heute lebt der 83-Jährige immer noch recht ungeschlacht wirkende Greis dort nach wie vor, wobei statt „leben“ wohl „hausen“ das bessere Wort wäre, wenn man Kupsch in seiner spärlich möblierten, teils hüfthoch zugemüllten Bude besucht. „Nein!“, so genau erinnere er sich nicht mehr an jenen denkwürdigen Abend, behauptet mittlerweile der, geschätzt, 120-Kilo-Mann, während er nach einer Maus schlägt, die gleich neben der Kartonpappe, die ihm als Schlafstatt dient, an irgendwas Organischem nagt. Wie ein Brikett schmeckt, wisse er aber noch sehr gut. Schließlich habe er seinerzeit im Gurkenkeller ja fast ein halbes verputzt beziehungsweise „verlutscht“ und danach tagelang an einer „hartnäckigen und im Abgang unsagbar schmerzhaften Opstipation“ gelitten.
Herausfallende Worte
An Verstopfung leidet Kupsch heute nicht mehr, jedenfalls nicht an einer Sprechhemmung, so wie die Worte aus ihm herausfallen. Warum das überhaupt sein musste mit dem Brikett, wollen wir wissen. „Weil nichts geistloser ist als eine Autorenlesung“, antwortet der Altautor und rattert weiter: „Weil nichts öder ist als eine Bühne mit einem Tisch drauf, an dem einer sitzt, der was vorliest. Ich habe das ja selbst jahrelang gemacht, so Lesungen. Und geglaubt, was für ein toller Hecht ich bin. Aber dann kam mir das alles affig vor, so überflüssig, so langweilig, dass ich nur noch …“, Kupsch tut, als müsste er brechen.
„Selbst jetzt, wenn ich nur dran denke: Wie da einer neben einer Lesefunzel hockt, womöglich noch Hut auf oder Schiebermütze, und mit nassforscher Miene und schelmischen Blicks was vorliest …“, er bricht angeekelt ab. „Da lutsch ich lieber ein Brikett“, habe er damals gedacht und das dann auch gemacht. Mit dem Effekt übrigens, dass er nie ein größeres Publikum hatte. „Vorher nicht. Und nachher eh nicht, weil ich nie wieder zu einer Lesung antrat.“
Auch geschrieben hat Kupsch seit Jahrzehnten nichts mehr, beschäftigt sich heute fast nur noch mit seinen Zwangsvorstellungen. „Andauernd muss ich mir andere Leute beim Sex vorstellen. Das kann anregend sein. Meistens aber nicht.“
Quälendste Zwangsvorstellungen
Nebenbei denkt er sich Namen für „Beatgruppen“ aus. Sein Favorit: „Bund, Länder und Kommunen“. Weil, wer so hieße, könne sicher sein, häufiger mal in den Nachrichten erwähnt zu werden. „Überhaupt: die Nachrichten! Eine meiner quälendsten Zwangsvorstellungen überkommt mich regelmäßig beim ‚heute-journal‘, weil ich mir da immer ausmalen muss, wie dieser Heinz Wolf direkt nach der Sendung von der Slomka vernascht wird.“
Apropos vernaschen. Wir können es uns dann doch nicht verkneifen, vom großen alten Mann der Steinkohle einen aktuellen Kommentar einzuholen zu Putin und dem Energiekrieg im anstehenden kalten Winter, da sei er doch sozusagen Fachmann für fossile Brennstoffe. „Ach, Putin! Hören Sie mir doch damit auf! Heute würde ich, wenn ich noch jung und die Letzte Generation wäre, dem das Brikett bestimmt bis zur Halskrause hineinschieben.“
Als wir schließlich und endlich aus der Tür auf die Mommsenstraße treten, beugt sich Wolfdietrich Kupsch oben aus dem Küchenfenster und ruft uns noch etwas zu: „Und bleiben Sie zuversichtlich!“ Aber so, dass man merkt, wie es in Wirklichkeit gemeint ist.
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