Die Wahrheit: Kein Glück gehabt
Immer schon spielt der alte Vater Lotto. Nun ist er im Pflegeheim. Und die verantwortungsvolle Aufgabe der Scheinabgabe wechselt zum Sohn über.
D ie Lottozahlen vom letzten Wochenende lauten: 15, 17, 20, 22, 23 und 26. Alle gezogenen Zahlen liegen innerhalb von zwölf Ziffern, also zwischen 15 und 26. Niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand ist, würde eine solche Zahlenreihe tippen! Allerdings hat tatsächlich ein Mensch in Deutschland diese sechs Zahlen angekreuzt und gewinnt nun 2.357.345,80 Euro.
Vielleicht hat jene Glückspilzin nicht einmal selbst über die Zahlen entschieden, sondern es ist ein maschineller Zufallstipp gewesen. Mein Vater und ich jedenfalls sind total sauer auf diese Zahlen. Seit Jahren bilden wir eine Tippgemeinschaft. Mein Vater hat früher mit einer unglaublichen Geduld sämtliche Tippreihen über Jahre von Hand ausgewertet, um den idealen Tipp zusammenzustellen, den „Sicheren“, den „Hundertprozentigen“ für die sechs „Richtigen“. Weder das Glück noch der Zufall haben ihn je belohnt. Der Einzige in der ganzen Familie, der an seinen Tipp nach wie vor glaubt, bin ich.
Nun ist mein Vater schwer erkrankt, und damit ist der verantwortungsvollste Job in unserer Familie auf mich übergegangen. Ich muss Sorge tragen, dass der Lottoschein allwöchentlich abgegeben ist! Denn zur Zeit lebt er im Pflegeheim. Die Krankheiten meines Vaters haben ihn gezwungen, einige Schamgrenzen zu überwinden in der notwendigen Pflege und Fürsorge. Die sicherlich schlimmste und schwierigste Grenze für ihn war, dem im Gegensatz zu meinem sehr organisierten Bruder, der sich das Lottogeld aber lieber spart, unordentlichen Sohn, also mir, die Aufgabe übertragen zu müssen, allwöchentlich den Schein zur Annahmestation zu bringen. Bei jedem meiner Besuche ist nun Vadders erste Frage: „Hässt du dän Schien ok affegirm?“ Und ich antworte mit der gebotenen Sorgfalt: „Häwick!“
Die Rente ist weit niedriger als der Heimbeitrag. Dazu kommt: Die Krankheiten haben sich verschlimmert, umso dringlicher also ist für ihn der Wunsch, dass es endlich zum Lottogewinn kommt. Zum einen, um das Geld in der Pflege einsetzen zu können, zum anderen aber auch, um Frau und Söhnen überhaupt noch etwas hinterlassen zu können. Die Lotto-Spielerei aber wird traditionell durch seine Frau kritisiert: „Rausgeschmissenes Geld!“, nennt sie es immer wieder. Und mit Furor: „Schall ick moal tosammen tellen, wievierl Geld du doar oll rute schmierten hässt?“
Selbstverständlich versuche ich stets und allzeit, meinen Vater zu verteidigen, nicht nur weil ich eben Mitglied der Tippgemeinschaft bin. Ich sage dann so was wie: „Ja, Mama, aber wenn wir mal Glück haben?“ Vorigen Freitag, nur einen Tag vor jener vermaledeiten Samstagsziehung, war es wieder so weit. Dieses Mal sah Mama mich lange an. Dann holte sie sehr tief Luft und sagte laut: „Glück? Weißt du eigentlich, was Glück ist? Wenn du eine leere Flasche mitten in ein Feld stellst, und dann fliegt ein Vogel drüber und scheißt. Wenn der in die Flasche trifft – das ist Glück!“
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