Die Wahrheit: Puppenstubig mit Donnerbalken
Die guten, alten Zeiten mit Euterragout vom Feinsten und einem leckeren Floridawalzer auf Holsteinisch – ein Besuch im Oldenburger Nostalgiemuseum.
Die Zeit ist gefräßig. Nicht bloß die Menschen verschwinden irgendwann auf Nimmerwiedersehen, sondern vor allem die gewohnten und abgeliebten Dinge! Mit einer Einschränkung: Das Ehepaar Freia und Frido Uhlenbeek sammelt alles, was es nirgendwo sonst auf dem Globus, ja nicht einmal im kompletten Weltall noch gibt. Auf ihrem Anwesen nahe dem holsteinischen Oldenburg, einem vor viel Land und Luft strotzenden früheren Gutshof, verwahren sie mit treusorgenden Händen, was sie einigermaßen sauber in dieselben kriegen.
Besucher fragen per handgeschriebenen Brief mit Durchschlag zwei Wochen vorher an. Einzige Voraussetzung ist die gotische Schrift, die Fraktur, die Schulkinder noch in den sechziger Jahren erlernen mussten. Dem Brief muss selbstverständlich Rückporto beigelegt sein. Notabene: Eine Anfahrt mit der Eisenbahn wird gern gesehen und später mit einer Preisermäßigung beim Kauf der Eintrittskarten, der sogenannten Billets, belohnt.
Vor dem Eingangstor steht eine gelbe Telefonzelle. Hier wirft man in einen Metallkasten zwei Groschen ein, die man zu Hause bei einem Münzhändler für ein paar Euro erstanden hat, und meldet sich über den Fernsprecher an, ein knochenähnliches Gerät mit Sprechmuschel am einen und Hörer am anderen Ende.
Damen machen einfach einen Knicks
Ein Dienstbote naht sodann auf einem Drahtesel ohne Gangschaltung und begrüßt den Gast mit einer leichten Verbeugung, was man mit einem Diener erwidert; Damen machen einfach einen Knicks. Der kurze Fußweg führt auf Schusters Rappen an Konrad Adenauer und Helmut Kohl vorbei zum aufrecht stehenden Hauptgebäude.
„Das sind lebensgroße Puppen, keine ausgestopften Politiker!“, versichert Herr Uhlenbeek treuherzig, der geöffnet hat, nachdem man den Glockenzug betätigt hatte. „Im Unterschied zum Schwarzstirnwürger und der Kleinwühlmaus hier im Empfangsraum!“, spinnt der Hausherr den Faden weiter und quittiert die eigens eingetauschte Deutsche Mark, wobei er wie annonciert zwei Prozent Skonto gibt. Sein Antlitz verschwindet fast hinter dem aufgewucherten Siebziger-Jahre-Vollbart, die wie Murmeln glitzernden Punkte oberhalb des Gesichtserkers mögen die Äuglein sein.
Auf der anderen Hallenseite stehen passgenau die Schwarzstirnwürger und Kleinwühlmäuse von heute: die klobige, sehr deutsche Z 1 von Konrad Zuse, eine amerikanisch anzivilisierte Büromaschine von Nixdorf, ein noch etwas dicklicher Klapprechner von Siemens, wir lesen das Wort „Kellerspeicher“. Deutsch ist hier manchmal so nützlich wie Sumerisch oder Cornisch, aber denen begegnet man in einem anderen Raum. „Kellerspeicher heißt auf Deutsch CPU“, erläutert Frau Uhlenbeek, die mit ihrer Bienenkorbfrisur achtgeben muss, nicht die dreiflammige Pendelleuchte an der Decke abzureißen.
Ein-Pfennig-Marke von 1958
Im nächsten Raum steht ein Modell der provisorischen Hauptstadt Bonn – „am Rhein, falls Sie sich nicht erinnern“, hilft die Dame des Hauses weiter und weist auf die Ein-Pfennig-Marke von 1958 in einer mit Vorhängeschloss gesicherten Vitrine. „Die wurde uns ein paarmal geklaut, das kostet immer eine hübsche Stange Geld!“ Bar versteht sich, Schecks gibt es ja erst seit dem Mittelalter.
Beim Schlendern durch die Räume erblickt man hier das kesse Fräulein vom Amt, dort einen Volkspolizisten aus der abgestorbenen DDR, schließlich ein Arbeitszimmer, in dem Bücher stehen. Besuchern, die die Bequemlichkeit suchen, wird die nächste Überraschung zuteil: Man muss die Beine in die Hände nehmen und geschwind zum Herzelhäuschen eilen. Wer sich sputet und den Trimm-dich-Pfad zügig absolviert, erleichtert sich gerade noch rechtzeitig auf dem Donnerbalken und reinigt sich mit dem in handliche Portionen geschnittenen alten Zeitungspapier aus der Frankfurter Allgemeinen halbwegs.
Die Schuhe sind im feuchten Gras pitschnass geworden, denn in der Eile hatten wir die Galoschen überzuziehen vergessen. Wir fahren mit dem Paternoster mehrmals in den sogenannten Kohlenkeller, bis uns der Absprung gelingt, und betreten endlich die „Milchbar“, die nur so heißt: Hier gibt es Kuttelflecksuppe und Euterragout und zum Runterspülen mehrmals Kognak mit Würfelzucker, die Nikolaschka, für den Herrn; Damen kredenzt man bis zum Umkippen den Floridawalzer, Orangenlimonade mit Eierlikör.
Idyllische Puppenstubenwelt
Entsprechend gestärkt muss sich der Gast an sich selber festhalten und lässt sich in die idyllisch zurechtgebrezelte Puppenstubenwelt des in den siebziger Jahren verstorbenen Handwerks entführen: Ein Wagner bessert den Bollerwagen des Landwirts aus, ein Ritter der Landstraße mischt für seinen Trabant das Benzin mit Zweitaktöl, ein Archivar dreht ratlos eine stumme 5-1/4-Zoll-Diskette in der Hand.
Ein abschließender Spaziergang an der frischen Luft – das Plumpsklo bleibt links liegen – führt über die Stolperfalle Messerschmitt-Kabinenroller – welcher Mensch hat schon Augen in Kniehöhe – zu Modellen der verblichenen Autofirmen DKW und Borgward sowie einem Lastkraftwagen des VEB Roburwerke Zittau und endet beim legendenumstrickten Ro80 mit dem totgeborenen Wankelmotor.
Der ist Geschichte wie das im Teich schräg im Wasser liegende und halb versunkene Modell der Viermastbark Pamir, die 1957 in einem Hurrikan 600 Seemeilen vor den Azoren sank und 80 der 86 Besatzungsmitglieder mit in die finstere Tiefe riss. Der Lärm der tobenden Winde und rollenden Wellen, die Hilfeschreie der erwachsenen Matrosen und jugendlichen Kadetten stammen „authentisch von Schauspielern beziehungsweise Toningenieuren“ und werden von „einer extra alten BASF-Kassette“ eingespielt, wie eine Infotafel erläutert. Das erklärt das störende Rauschen.
Am Ende ist es spät geworden, und wiewohl es die gute alte Zeit nie gab, tut das Bad in Nostalgie Herz und Nieren äußerst gut. Denn was gewinnt der Mensch dafür, wenn er alles verliert? Auch Frau Uhlenbeek und ihr Ehegespons wissen die Antwort nicht, aber geben mit ihrem Museum eine.
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