Die Wahrheit: Indianer an der Isar

Lebenslänglich Bayer: Alle Menschen sind schon immer seine Brüder und Schwestern. Willy Michl ist ein Münchner Künstler der sehr eigenen Art.

Der kleine Andreas fühlte sich gewiss größer als er war. Zwölf ist er gewesen oder 13. Verwachsen war er, wie es sich gehört für einen, der gerade die letzten Streckungen in seiner Adoleszenz durchlebt. Die Beine zu lang, der Oberkörper hühnerhaft von ein paar ersten Haaren bewachsen und die Arme wie Streichhölzer so dünn. Ja, Wimmerl auf der Stirn hatte er auch.

Aber stolz war er. Denn er durfte mit in den Schwabinger Bräu. Seine Schwester hatte sich erbarmt, ihn mitzunehmen auf das Konzert von Willy Michl. Sie war ein großer Fan des Künstlers. „Ois ist Blues“, hatte sie mit schönster Mädchenschrift auf ihre Jeans geschrieben. Nicht nur für sie war alles (bairisch: ois) Blues in diesen Jahren in München. Das Wort „authentisch“ war noch nicht gebräuchlich, aber der bayerische Blues, den Michl erfunden hat, hörte sich so echt an, wie sich das Leben in München angefühlt hat.

Irgendetwas spürte der kleine Andreas bei diesem Konzert. Hat da der Bruder gesungen, den er nie gehabt hat? Am Ende der vergangenen Woche stand Willy Michl wieder auf einer Bühne in München. Im Lustspielhaus in Schwabing feierte er mit einem Konzert seinen 72. Geburtstag. „Brüder und Schwestern“, rief er von der Bühne, „ist es nicht großartig, dass ich auch in meinem 73. Sommer noch für euch spielen kann?“ Logisch. Ja, er ist mein Bruder. Alle Menschen sind Brüder und Schwestern für ihn. Er sagt das, seit er weiß, dass er ein Indianer ist. „Isarindian“ nennt er sich, als sei er schaumgeboren aus den Wasserblasen des Flusses, den er besungen hat wie kein zweiter.

„Sound of Thunder“ ist sein spiritueller Name. Unter diesem verkündet er seine Botschaft stets bestens aufgebrezelt mit schönstem Federschmuck am langen Haupthaar: „Wir dürfen einander nicht verletzen! Wir müssen uns lieben, respektieren und ehren!“ Nur dann sei Frieden auf der Welt möglich. Und er glaube daran, „auch wenn es gerade nicht danach aussieht“.

Die versammelten Brüder und Schwestern, deren Falten im Gesicht wie Jahresringe verkünden, dass auch sie schon viele Sommer durchlebt haben, klatschen. Auch der Andreas, der die grauen Haare auf seinem Haupt schon lange nicht mehr zu zählen weiß, sitzt da und staunt über die einfache Weisheit seines Bruders.

Willy Michl ist immer noch eine der bekannteren Figuren eines vergehenden Münchens, das all die zugezogenen Vielzugutverdiener, denen es nichts ausmacht, für eine Tasse Cappuccino fast fünf Euro zu zahlen, nie verstehen werden. Und doch sind nicht allzu viele Brüder und Schwestern gekommen, um Michl in seinen nächsten Sommer zu begleiten. Vielen, die ihn früher mochten, ist er zu spinnert geworden.

Als er 70 wurde, ist viel spekuliert worden, was wohl aus ihm hätte werden können, wäre er nicht in die Indianerrolle geschlüpft. Als wäre das eine Rolle! Als hätte sich da einer etwas angeeignet! Willy Michl ist ein Isar­indian. Das mag verrückt klingen, aber es ist kein Indianerspiel. Alles Gute, Bruder!

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kari

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