Die Wahrheit: Der Herr ist mein Beifahrer
Ein Stoß- und Dankgebet zu Ehren des großen Tempogotts namens Christian Lindner in der dieseligen Autobahnkirche von Bad Binsen.
„Lindner unser am Steuer, geheiligt werde dein Porsche.“
Unterwegs auf der A 9 überkommt mich auf einmal der überwältigende Wunsch, auf der Stelle zu beten. Es ist sozusagen ein Notfall. Ich brauche sofort eine Autobahnkirche oder wenigstens eine Autobahnkapelle – sonst bin ich verloren. Doch zum Glück ist es auf deutschen Autobahnen niemals weit bis zur nächsten Betstätte.
Und da kommt sie hinter einer steilen Kuppe auch schon ziemlich unvermittelt in Sicht: die katholische Autobahnkirche St. Christophorus Unterbodenschutz an der Ausfahrt Bad Binsen. Von der Überholspur muss ich die Karre mit 180 km/h quer über drei Fahrstreifen ganz nach rechts rüber ziehen, um dort abrupt auf zwanzig abzubremsen. Hinter mir hupt, scheppert und knallt es wie verrückt, doch ich drehe mich nicht um und zucke mit keiner Wimper. Schließlich wird mir mit meinem heiligen Ziel im Visier nie und nimmer ein Leid geschehen. Auf den lieben Gott kann ich mich stets hundertpro verlassen: „Der Herr ist mein Beifahrer, mich wird keiner übermangeln …“ (Autobahnpsalm 23:1).
Auf dem Parkplatz vor der Gottesgarage stelle ich mein Auto ab und eile hinein. Angenehme Kühle umfängt mich, es ist still. Nur vorne in der ersten Reihe kniet ein betender Autofahrer. Der Beichtstuhl, der bei meinem vorigen Besuch die Schlange der Büßer noch im Reißverschlussverfahren aufnahm, steht verwaist. Seit die FDP an der Regierung ist, gilt das Töten von Fußgängern und Radfahrern nicht mehr als Sünde, weder vor Gott noch vor der irdischen Justiz. Was gibt es da jetzt noch groß zu beichten: zu geringer Spritverbrauch, Samstag Auto nicht gewaschen, bei Gelb an der Ampel gehalten?
„Deine Tankstelle komme. Dein Wille geschehe, wie im Stadtverkehr, so auf der Autobahn.“
Buntglasszenen aus dem Straßenverkehr
Die Unterbodenschutz von Bad Binsen ist eine der schönsten Autobahnkirchen entlang der BAB 9. Die herrlichen Buntglasfenster aus dem sechzehnten Jahrhundert zeigen Szenen aus dem Straßenverkehr: Waghalsige Überholmanöver von OS-starken Ochsenkarren, schneidige Botenreiter von UPS und DHL, zerborstene, tief in Schlamm, Kot und Pesteiter steckende Wagenräder sowie einen Einsatz der Schwarzen Raben vom ADPC, einem Vorläufer der heute so bekannten Gelben Engel.
Das Sanifair-Seitenschiff birgt kunstvolle Ikonen, die Carl Benz, Andi Scheuer und Ayrton Senna in prächtigen Gewändern alter Zeit abbilden. Über einem kleinen Nebenaltar blickt der gekreuzigte Michael Schumacher auf uns herab. Im Taufbecken schwimmt Benzin. „Schillernd wie ein Regenbogen“, schießt mir die Zeile eines Reinhard-Mey-Lieds durch den Kopf.
„Unsern täglichen Sprit gib uns heute. Einmal Säule vier und den Blaubeermuffin, ich bezahl mit Karte.“
Ich schlüpfe in eine der Recaro-Kirchenbänke und lasse mich mit beiden Knien auf das ledergepolsterte Kniebrett nieder. Tief senke ich mein Haupt, falte die Hände und bete zu Gott, dass er alle Radfahrer mit seinem himmlischen Dooring töten möge, ich von Stau, Kolbenfresser und Radarfalle verschont bleibe und der alte böse Feind kein generelles Tempolimit einführt.
„Und führe uns nicht in die Vollsperrung, sondern erlöse uns von den Radfahrern. Denn dein ist das Gaspedal und die Lichthupe und die Überholspur in Ewigkeit. Amener Kreuz.“
Lange verharre ich in dieser demutsvollen Haltung, spüre achtsam meinen Worten nach und genieße die meditative Ruhepause. Selbstverständlich behalte ich dabei im Hinterkopf, dass die laut Navi prognostizierte Ankunftszeit sich mittlerweile um sage und schreibe vierzehn Minuten nach hinten verschoben hat. Aber das ist mir die Andacht in Bad Binsen wert, denn mit frisch gestärkter Seele und ordentlich Bleifuß hole ich die Verspätung zweimal wieder rein.
Als ich wieder aufblicke, steht ein Mann vor mir. Er riecht nach Benzin, Schweiß und Leder. Seine Kutte, auf deren Rückseite in Frakturbuchstaben „Heavens Angels“ steht, kennzeichnet ihn als Autobahngeistlichen.
Rhythmisches Brimborium
„Willkommen im Autohause Gottes“, begrüßt mich Autobahnvikar Hubertus Silbernagel und fuchtelt mit allerlei katholischem Brimborium vor mir herum, das mich an die Geräte und auch Choreografien rhythmischer Sportgymnastinnen erinnert. Ich verstehe jedenfalls nur Bahnhof und gebe kleinlaut zu, dass ich lediglich ein aus der Kirche ausgetretener Ex-Evangelischer sei. Und sorry.
Doch der Pater beruhigt mich: „Ob Katholik, Protestant oder Muslim: Die Autobahnkirche ist für alle Gläubigen gleichermaßen da.“ Wie zum Beweis deutet er auf einen Gebetsteppich, der traditionsgemäß gen Flensburg ausgerichtet ist: „Den hat der Königliche Automobilclub Saudi-Arabien gestiftet. Und dort, das Kruzifix mit dem durchbohrten 130er-Schild ist eine Spende der FDP.“ Er könne mir, so der fromme Mann weiter, sogar das Heilige Abendmahl geben.
Das Navi wird vor ungeduldiger Wut schreien, doch so ein Angebot kann ich nicht ausschlagen – zur Not küsst mein Gaspedal die letzten zweihundert Kilometer lang nonstop das Bodenblech. Auf der Altarstufe knie ich vor Silbernagel nieder. Er reicht mir einen Messingpokal an, aus dem ich einen Schluck Red Bull trinke. Danach esse ich andächtig von der dargereichten Raststätten-Bockwurst.
„Christi Leib, für dich gegeben.“ Der Vikar zeichnet mir mit Motoröl ein Kreuz auf die Stirn, nimmt dann ein Aspergill zur Hand und besprengt mich mit einer Mischung aus Frostschutzmittel und destilliertem Wasser. „Fahre hin in Frieden, mein schneller Sohn.“
Ich bedanke mich mit einem stummen Nicken. Bevor ich gehe, stelle ich am Opferstock noch eine Zündkerze für all die toten Autofahrer auf.
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