Die Wahrheit: Klein, kleiner, am kleinsten
Sparen ist allerorten angesagt: Der Berliner Reichstag wird deshalb im Jahr 2027 nur noch ein baulicher Schatten seiner selbst sein.
Es ist ein sonniger Frühsommermorgen im Jahr 2027. Wir stehen vor dem innen wie außen extrem verkleinerten und runderneuerten Reichstag in Berlin. Mit Helge Petersen, parteiloser Abgeordneter und Spezialist für Gebäudeverschlankung, sind wir zu einem Rundgang durch das nicht wiederzuerkennende XXS-Staats-Palais verabredet. Der zopftragende Mittfünfziger ist von seinem architektonischen Husarenstück derart euphorisiert, dass er sich mit Begrüßungsfloskeln nicht aufhält und zackig in seinem rostbraunen Tweet-Sakko auf den Punkt kommt.
„Wir haben den Reichstag in der Breite erheblich verkürzt, ihn entkellert, die überflüssige Kristallkuppel von einem Lastenhubschrauber anheben und über einer Polterabendfeier im nahen Stadtteil Wedding abwerfen lassen“, sprudelt es nur so aus dem Baumeister heraus. „Das verbliebene Flachdach wurde dann tiefer- und der Fußboden höhergelegt. Ist doch schön geworden, oder?“
Wir geben uns Mühe, den drollig anmutenden Schrumpf-Klotz mit frischen Augen und einem Vorschuss an Wohlwollen zu betrachten. Es hilft nichts. Der windschiefe Kasten wirkt wie ein unsachgemäß entsorgter und dabei mehrmals vom Kran gefallener Altglas-Container mit Lochfraß. Wie konnte es so weit kommen?
Verkleinerung des aufgeblähten Bundestags
Fünf Jahre zuvor hatte man sich damals im politischen Berlin zwar nicht auf eine Verkleinerung des aufgeblähten Bundestags einigen können, beschloss aber 2022, dass in krisengebeutelten Zeiten wie diesen zumindest der pompöse Sitzungsort einer kleineren Version seiner selbst weichen solle.
Im Hier und Jetzt des Jahres 2027 heften wir uns nun an die Fersen des Häuslebauers Petersen und besteigen die nur noch aus einem einzelnen Tritt bestehende Freitreppe zum Portal auf der Gebäudewestseite. Anstelle der einst ausladenden Pforte erwartet uns nun eine kniehohe Besucherklappe, durch die wir Petersen auf allen Vieren kriechend nach innen folgen. Als wir uns in der schmucklosen Halle mit gefährlich niedriger Stuckdecke vorsichtig aufrichten, stehen wir geduckt einer Ballung nervöser Abgeordneter vor dem Waschraum gegenüber.
„Statt Dutzenden von Toiletten für Damen und Herren gibt es jetzt aufgrund der beengten Verhältnisse nur noch den eintürigen Unisex-Lokus im Erdgeschoss“, erklärt uns der Gebäude-Minimalist den Massenandrang. „Da aus Angst vor Malheuren in der Kloschlange mittlerweile niemand mehr bei Sitzungen trinkt, konnten wir nicht nur die zweckentfremdeten Bundestagstopfpflanzen, sondern auch alle Getränkeautomaten entfernen.“ Petersen reibt sich entzückt die Hände. „Die freigewordenen Stehnischen haben wir sofort für die Unterbringung weiterer Abgeordneter genutzt und dadurch im Tagungsbereich etliche Quadratmeter dringend benötigter Fläche für Überhangmandatsträger hinzugewonnen.“
Zwar sei der Blick aufs politische Geschehen aus dieser Perspektive meist von tragenden Säulen verdeckt, aber oft wolle man die Visagen der Leute, die das Wort haben, ja gar nicht erst sehen. „Fragen Sie Roland Pofalla mal nach Wolfgang Bosbach!“, feixt der Meisterbauer beim Schlendern durch das Zentrum des ebenfalls beträchtlich geschrumpften und zurzeit sitzungsfreien Plenarsaals.
Drehsitze, der neue heiße Scheiß
Als wir wissen wollen, wie sich bloß im jetzt nur halb so großen Herzstück des Parlaments alle Bundestagler unterbringen lassen, macht Petersen uns auf rechteckig verlaufende Fugen im Boden unter den Polsterflächen aufmerksam. „Drehsitze“, kommentiert der Immobilienchirurg zungenschnalzend den „neuen heißen Scheiß“ aus der Bundestagstrickkiste und verdeutlicht uns sogleich das Wirkungsprinzip.
„Während auf engstem Raum getagt wird, harren angeschnallt und mit dem Kopf nach unten mehrere Hundert Abgeordnete unter dem Parkett aus und warten auf den Wechsel der fünfzehnminütigen Sitzungsschicht. Dieser erfolgt, sobald die Bundestagspräsidentin den Mechanismus manuell mit einem kraftvollen Hebelzug betätigt und die blutleeren Repräsentanten schwungvoll nach oben katapultiert, während es für die abgelösten Sitzungsteilnehmer runter in die sauerstoffarmen Hohlräume geht.“
Dass die präsidiale Ordnungskraft den Vorgang durch wiederholtes Vor- und Zurückziehen wie in einem Spielcasino beschleunigen oder per Knopfdruck gar einen Schleudersitz für Oppositionspolitiker auslösen kann, diesen Verdacht will Petersen weder ausräumen noch bestätigen. Nur so viel vermag er zu sagen: „Friedrich Merz hält das Gerücht offenbar in Schach.“
Der Domizilschrumpfer huscht am Rednerpult vorbei und öffnet eine knarzende Tür in der dünnen Rigipswand unterhalb des Bundesadlers. Früher wohl eine Besenkammer, stehen sich in dem zirka drei Quadratmeter großen Kabuff nun zwei wacklige Campingstühle gegenüber. Dazwischen liegt auf einem Beistelltisch ein quietschgelbes Plastikmikrofon, aus dem offenbar gerade Batterieflüssigkeit ausläuft. Petersen scheint unsere Verwirrung zu spüren, er klärt auf.
Gefahr für die Frisur von Markus Lanz
Im Rahmen der allgemeinen Einsparungen fänden die Pressekonferenzen der diversen Mitglieder der Bundesregierung mittlerweile ausschließlich hier statt. Platz sei aber nur für einen Medienvertreter, der zudem kein extralanges Objektiv auf seine Kamera schrauben dürfe, „sonst würde er beim Hantieren mit dem Apparat Regierungssprecher Markus Lanz möglicherweise versehentlich die Frisur ruinieren“.
Derweil Petersen uns zum Ausgang begleitet, denken wir an unsere XXL-Fotoausrüstung für den nächsten Besuch im XXS-Reichstag nach der Sommerpause. Ende Juni 2027 sollen erst mal Dutzende von Schwertransportern die Einzelteile für vier überdimensionale Schraubzwingen herankarren. Durch Druck von allen Seiten sollen sie die Verkleinerung des Parlamentsgebäudes im Rahmen des physikalisch Möglichen um ein paar letzte Zentimeter ausreizen.
Ein Regierungsoberhaupt, das die neuen Werte des Mini-Mini-Reichstags authentisch verkörpert, wurde bei der letzten Bundestagswahl schon gefunden. Ob „Baby-Kanzler“ Kevin Kühnert über eine Gesetzesänderung auch die Legitimation für eine Regentschaft auf Lebenszeit erhält? Das soll sehr bald im winzigen Bundestag diskutiert werden. Natürlich, wie Helge Petersen mit einem süffisanten Grinsen betont, während einer „Kleinen“ Anfrage.
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