Die Wahrheit: Jetzt wird’s kindisch

Mit der Kidcore-Mode wollen erwachsene Menschen sich zurück in die Kindheit versetzen. Jetzt hat der irritierende Trend auch die Politik erfasst.

Das Bild zeigt eine junge Frau mit Schleife im Haar.

Führungskräfte im Lolita-Look sind hierzulande noch in der Minderheit Foto: reuters

Wer in den letzten Wochen TV-Interviews mit Olaf Scholz gesehen hat und dabei nicht sofort eingeschlafen ist, konnte am Erscheinungsbild des Bundeskanzlers eine kuriose Veränderung feststellen: Das sonst so staatsmännisch-einheitsgraue Business-Dress ist einem knallig-verspielten Outfit gewichen, das man eher bei einem präpubertären Schulbuben erwarten würde.

Statt Anzughose trug Scholz immer öfter eine mit Ghostbusters-Patches bestickte Latzhose, statt Sakko einen zu weiten Anorak mit Galaxienmuster, darunter ein T-Shirt mit Dinosaurier-Aufdruck. Die ALF-Pantoffeln fielen da schon gar nicht mehr auf.

Hat sich der spröde Staatsmann auf seiner jüngsten Japanreise einer Stilberatung unterzogen? Immerhin wird in Fernost seit Jahren durch Konzepte wie Kawaii oder Lolita fashion nicht nur von obskuren Randgruppen kindliche Ästhetik zelebriert – und sexualisiert.

Hornbrille zum dünnen Schnauzer

„Moment, da muss ich gleich mal einhaken“, hakt Professor Newt Boggins, Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Popkultur an der Texas State University, gleich mal ein. „Mit erotischer Selbstverwirklichung hat dieser Habitus erst einmal nichts zu tun! Sie würden schließlich auch keine Schlüsse auf meine privaten Vorlieben ziehen, nur weil ich eine riesige Hornbrille und einen dünnen Schnauzer trage, meine beigefarbene Chinohose zu weit hochgezogen und mir Pomade in den Seitenscheitel geschmiert habe. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss in meiner Nachbarschaft vorstellig werden wegen, äh … einer Gerichtsentscheidung.“

Tatsächlich scheint der Trend, dass sich immer mehr Erwachsene wie in ihrer Kindheit kleiden, vor allem von Nostalgie und Eskapismus beflügelt zu sein. Angesichts allgegenwärtiger Krisen wie Inflation, Klimakollaps, Corona und Ukraine sehnen sich Mittvierziger nach einfacheren Zeiten zurück – und hüllen sich in Erinnerungen an die heile Welt der Achtzigerjahre mit ihren beruhigenden Konstanten wie dem Wettrüsten, Aids, Golfkrieg und Waldsterben.

Grenzen der Entfaltung

Ein Statement ist Kidcore, wie das globale Phänomen in Anlehnung an „Normcore“ und andere überakzentuierte Modeauswüchse genannt wird, selbstverständlich trotzdem für viele, besonders für Prominente, die damit ausdrücken wollen: „Schaut, ich nehme mich selbst nicht so ernst. Und ich habe einen neuen Vertrag mit einem Start-up, das aus alten Gameboy-Hüllen und Hubba-Bubba-Verpackungen Brotdosen herstellt.“

Den Influencern nachzueifern ist in diesem Fall leichter gesagt als getan, denn gerade im Berufsleben stößt die geschmackliche Entfaltung an ihre Grenzen. Aber auch da seien Aufweichungserscheinungen im Gange, beobachtet zum Beispiel Kathi Sterzinger, Lifecoach und Moderatorin des Podcasts „Dolls & Dopamine“: „Spätestens mit der Pandemie, in der wir alle in Kapuzenpulli und Jogginghose im Homeoffice hockten, haben sich die festgefahrenen Dresscodes verabschiedet.“

Sind Batikhemden und Rollerblades mithin nicht ohne mentale Regression zu haben?

Ist das wirklich so? Garantiert ein gewisses Maß an äußerlicher Seriosität nicht die Professionalität in vielen Branchen? Oder müssen wir uns auf Aktionärsversammlungen im Sandkasten einstellen? „Menno, das hab ich nun mal so recherchiert!“, wirft Sterzinger ein. „Ich hasse euch und wünschte, ich wäre nie geboren worden!“ Bevor sie auf ihr Zimmer stürmt, wirft sie uns noch die Kopie eines Artikels aus der Süddeutschen Zeitung vor die Füße. Darin ist von „einer Phase der verlängerten Unreife“ die Rede, von „kultureller Infantilisierung“.

Auf dem Hüpfball im Studio

Sind Batikhemden und Rollerblades mithin nicht ohne mentale und intellektuelle Regression zu haben? Und wenn ja, muss das bedenklich sein? Twentysomethings wie Sophie Passmann und El Hotzo feiern mit Gedanken und Formulierungen auf Mittelstufenniveau enorme Erfolge, und auf RTL & Co – um in Deutschland zu bleiben – erreichen Shows wie „Fang mich doch!“ und „Das große Celebrity-Katzengesichter-Schminken“ Rekordquoten.

Da will die Politik, wie schon eingangs erwähnt, nicht nachstehen. Kurz vor der Landtagswahl in Schleswig-Holstein zeigte sich der amtierende Ministerpräsident, CDU-Kandidat Daniel Günther, nur noch mit Matrosenanzug und Propellermütze bei seinen Wahlkampfauftritten: „Den überdimensionalen Lolli habe ich weggelassen. Man ist ja keine 47 mehr.“ Die jugendliche Keckheit könnte sich peu à peu in alle Bereiche der Gesellschaft tricksen. Anne Will werde ihre Talkgäste demnächst auf einem Hüpfball sitzend in ihrem neuen Studio, einem ehemaligen VIVA-Pausenraum, empfangen, heißt es in Comic Sans auf der Webseite der ARD, die seit Neuestem ausschließlich unter der Adresse des Kinderkanals zu erreichen ist.

Dreiräder und Bobbycars

Welche Auswirkungen all das auf die Wirtschaft habe, konnte uns Dennis, Mitglied des neu gegründeten Rates der „Wirtschaftsweisen-Kinder“, nicht sagen. „Wirtschaft ist schweeeer, das verstehe ich einfach noch nicht, obwohl ich schon so alt bin“, klappt er seine Hände mehrmals auf und zu. Ein Gerücht zumindest spricht Bände: Der jung gebliebene Milliardär Elon Musk will in seiner Giga-Factory im brandenburgischen Grünheide ab 2024 Tesla-Dreiräder produzieren lassen, „oder noch besser: Bobby-Cars. Spongebobby-Cars, ahahaha!“. Dann kann der Kindergeburtstag ja endlich starten.

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