Die Wahrheit: Am Schritt sollt ihr Putin erkennen
Das Pentagon lässt sich von einer Professorin beraten, die als ehemalige Tänzerin die Körpersprache Wladimir Putins decodieren soll.
L ässt man sich vom Titel „Essay und Diskurs“ nicht abschrecken, in dem noch der Staub eines längst mumifizierten Bildungsbürgertums knistert, dann kann man in dieser angenehm introvertierten Sendung verteidigungsrelevante Dinge erfahren. Das Pentagon, erfuhr ich also ausgerechnet am letzten Vorkriegsabend, beschäftigt am Naval War College in Rhode Island eine Ausdruckstänzerin, die den Bewegungsapparat feindlich gesinnter Staatenlenker analysiert. Professorin Brenda L. Connors schaut nicht nur auf eine Karriere als Modern-Dance-Solistin zurück, sie ist auch Politologin. Dank dieser Doppelqualifikation vermag sie die Körpersprache des Kremlchefs zu entziffern. Die Moves des Ex-KGB-Offiziers Putin gelten ja als schwer durchschaubar. Auf geopolitisch bedenkliche Absichten etwa wiesen bis eben neulich nur etliche Reden, großrussisch aufgemuskelte Gedankenspiele sowie grenznahe Manöver hin, auf einen krachend autoritären Charakter sein verstörend robuster Umgang mit Dissidenten. Seine Mimik dagegen benutzt Genosse Botox noch sparsamer als der einbalsamierte Lenin, und die Motorik Putins wirkt eher mechanisch als imperial. Doch die Expertin erspürt kleinste Zeichen. „Nach links greift er aus, hat gelernt, eine alte, tiefe Schwäche kontrolliert zu überspielen“, analysiert Connors das präsidiale Schreiten. „Vielleicht eine ehemalige, schlecht ausgeheilte Kinderlähmung.“
Liegt im unterdrückten Humpeln der Grund für den Einmarsch in die Ukraine? Ist die gewaltsame Revision der postsowjetischen Ordnung ein Trauma-Plot? Wurde Putin über ein unbewältigtes Kindheitstrauma zum Bösnickel, wie es der zeitgenössische Spannungsroman zwingend vorschreibt? Und bekommt man für derart fadenscheinige Erkenntisse tatsächlich einen Lehrstuhl an einem „College of Leadership and Ethics“? Natürlich nicht, denn die Bewegungsmelderin hat noch mehr Faszinierendes aus den Kriech- und Schleichwegen Putins destilliert. „Er ist wie ein Reptil“, lautet das Fazit der Kremlologin. „Auch Reptilien stürzen sich auf ihre Feinde, sobald ihr Territorium bedroht scheint.“
Brenda L. Connors, deren Fachgebiet dieselbe Autorität wie Kraniometrie und Homöopathie besitzen sollte, hat mir die Augen geöffnet. An ihrem Gang sollt ihr die Schurken erkennen!
Seither starre ich meinen Mitmenschen auf den Schritt. Ähnelt das gemächliche Schlurfen meines Nachbarn nicht dem despotischen Watscheln Kim Jong Uns? Auch bei mir entdecke ich Alarmierendes. Meine Bewegungen wirken arg fahrig und unkonzentriert, weil ich sogar im Gehen Ukraine-Nachrichten sichte. Tatsächlich aber horte ich Massenvernichtungswaffen.
So lautete felsenfest das Urteil, das Brenda L. Connors über den ähnlich grobmotorischen Saddam Hussein fällte, nachdem sie dem irakischen Diktator wochenlang beim Hampeln und Herumfuchteln zugesehen hatte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW