piwik no script img

Die WahrheitSmartphone der Sechziger

Seltsam wird es, schleichen sich Fernsehfiffis in die Stammkneipe ein, um dort angeblich Aufnahmen für eine Studentenbewegungsdoku zu machen …

R udi, der Blödmann, wuchtete das Monstrum auf die Fensterbank. „Was machst du da?!“, rief Petris, Wirt des Café Gum. „Sieht doch prima aus!“, schnaufte Rudi: „Yuccapalmen standen damals in jeder Studentenkneipe. Ich hab noch mehr Deko. Hier, Fotos von Marx, Che, Uwe Seeler …“ – „Uwe Seeler?“ – „Na, klar! Die haben doch damals auch Fußball gekuckt.“ – „So ein Quatsch! Damals hingen hier weder Marx noch Uwe Seeler an der Wand, sondern nur die Spardosenbox der Stammtrinker. Da, kuck’s dir an!“

Petris zeigte auf die angegilbte Aufnahme aus den Sechzigern, die neben der Theke hing. Rudi winkte ab. „Es geht doch nicht um historische Genauigkeit. Es geht um PR! Also lass das alte Bild verschwinden, bevor die Fernsehfiffis kommen!“

Die Fernsehfiffis waren kürzlich bei Petris gewesen und hatten angekündigt, Aufnahmen für eine Studentenbewegungsdoku machen zu wollen, da sich in der Goldenen Pilskanne, dem Vorläufer des Gum, 1967 angeblich Rudi Dutschke, Herbert Marcuse und Erich Fried am Rande eines Teach-Ins getroffen hatten.

„Die drei“, erzählte uns Petris hinterher, „wollten wohl politische Fragen besprechen, hätten aber laut Zeitzeugen nach ein paar Halben nur noch Limericks und Nonsensgedichte fabriziert, von denen sich einige sogar in Marcuses nachgelassenen Notizbüchern erhalten haben sollen.“

Achtziger Wildkirschtee

Rudi nahm das alte Foto mit dem Sparkasten von der Wand und ersetzte es durch das Marx-Porträt. „Ich hab auch Wildkirschtee mitgebracht“, sagte er. „Wildkirschtee ist aber Eighties!“, protestierte Raimund: „1967 hat überhaupt niemand gewusst, was Wildkirschtee ist. Was wir brauchen, sind große Kristallaschenbecher. Die Rauchschwaden in den Kneipen damals waren dicker als der Londoner Nebel.“ – „Wahrscheinlich hat man die drei vor lauter Qualm gar nicht gesehen“, sagte Luis. „Hat Marcuse überhaupt geraucht?“ – „Damals hat jeder geraucht! Rauchen war quasi das Smartphone der Sechziger.“ – „Du meinst, wenn Marcuse noch lebte, würde er auf dem Smartphone rumdaddeln?“

Wir hörten Schritte. Die Fernsehfiffis kamen rein, schoben uns beiseite und begannen ohne Umschweife, Kabel zu verlegen und Scheinwerfer aufzubauen. „Der Tisch da drüben ist spitze“, sagte einer: „Hängt den Marx mal rüber und schafft die blöde Yucca weg!“ – „Äh, hallo …“, sagte Rudi, doch keiner beachtete ihn. Stattdessen pfiff jemand auf den Fingern und rief: „Jungs, wir sind falsch!“ – „Falsch? Was heißt das?“ – „Zahlendreher in der Hausnummer: Es ist gar nicht die 13, es ist die 31!“

Im Nu waren sie wieder draußen, und eine überirdische Stille breitete sich aus. „In der 31 ist doch ‚Tante Hertha's Wollebüdchen‘, oder?“, sagte Luis. Petris nickte. „War wohl früher auch mal ne Kneipe“, sagte er, und nur Rudi war immer noch ganz aufgeregt und raffte seine Fotos und den Wildkirschtee zusammen, um Tante Hertha bei der Deko für die Fernsehaufnahmen zu helfen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Joachim Schulz
Joachim Schulz wurde 1963 an der Nordseeküste geboren und in Regen, Wind und Nebel großgezogen. Er lebt mittlerweile in einer kleinen Welt in der hessischen Provinz, wo unablässig die großen Fragen des Lebens erörtert werden, und ist seit 1996 im Einsatz für Die Wahrheit.
Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!