Die Wahrheit: Wartezimmer statt Kneipe

Seit der Pandemie gibt es plötzlich Small- und Longtalk im Vorzimmer des Hausarztes. Manch einer und eine findet gar nicht mehr heraus aus der Praxis.

Ging man in der Zeit vor der Pandemie zum Arzt, war im Wartezimmer wenig los. Zwar hockten stets zahlreiche Leute im Raum, doch diese schwiegen apathisch, schauten zur Decke, husteten fahl vor sich hin und blätterten im Stern, dessen Auflage sich ohne Hausarztpraxen bekanntermaßen nur im ein- bis zweistelligen Bereich bewegte. Wahrscheinlich bezieht nicht mal mehr Hans-Ulrich Jörges ein Abo, seit er sich bei „Bild TV“ zum Affen macht.

Das Virus jedoch brachte einen Kulturwandel. Anlass des Wartezimmerbesuchs sind nämlich nicht mehr nur Erkrankungen, sondern zuvörderst auch Impfungen. Gesunde und fidele Menschen sitzen da jetzt rum, machen fröhlich Smalltalk und genießen die Gesellschaft. Das Wartezimmer ist die neue Kneipe.

So kam bei meinem letzten Aufenthalt sogar die Sprechstundenhilfe schon am Morgen lachend hereingeschlittert, um mir meinen aktualisierten Impfpass in die Hand zu drücken. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie eine lachende Sprechstundenhilfe gesehen. „Sprechstundenhilfe“ sagt man übrigens nicht mehr. Obwohl es im Grunde ein gutes, weil genderneutrales Wort ist, heißt es korrekt Me­di­zi­ni­sche*r Fachangestellte*r.

Beim Rausgehen rief die medizinische Fachangestellte glucksend: „Ach und eins noch, Herr Oettle! Nehmen Sie besser doch kein Ibuprofen, auch wenn ich’s vorhin zu Ihnen gesagt hab! Hier steht, Sie seien dagegen allergisch! Haha!“

Aufs Stichwort „allergisch“ erhob eine ältere Dame die Stimme, erzählte zunächst anschaulich von ihren eigenen Allergien und dann unerwartet heiter von ihrer aus Überzeugung ungeimpften Nachbarin, die mit Covid und 40 Grad Fieber zu kämpfen hat. Was wiederum eine jüngere Frau auf den Plan rief, die zuvor noch für alle gut hörbar eine Sprachnachricht folgenden Inhalts ins Smartphone geblökt hatte: „Des glaub ich nicht, dass die Polizei seinen Test faket! Wobei…und wieso darf der jetzt nicht mehr Autofahren? Bis die Strafe verhängt ist, bist du in Deutschland unschuldig! So war’s zumindest früher! Vor Corona!“

Das Gespräch der beiden entwickelte sich aber zum Glück in eine ganz andere Richtung: „Meine Tochter ist drei Jahre alt, die schwätzt manchmal schlauer daher als mancher Erwachsene!“ – „Unsere Enkelin ist zwei, die hat ein unglaublich gutes Gedächtnis!“ – „Ich hab meine Tochter immer vollgelabert auf dem Wickeltisch, wir haben uns da richtig unterhalten, auch wenn sie nicht sprechen konnte.“ – „Wir haben auch keine Babysprache oder Abkürzungen verwendet. Bis auf ‚Banane‘, das war halt ‚Nane‘.“ – „Unsere konnte ewig nicht Lokomotive sagen. Die einzelnen Silben zwar schon: Lo. Ko. Mo. Ti. Ve. Aber zusammen? Kokomovilte! Katastrophe!“

Eigentlich hatte man mir gesagt, ich solle nach der Impfung nur 15 Minuten lang zur Sicherheit im Wartezimmer ausharren. Allein: Es war so aufregend, dass ich bis zum Praxisschluss am späten Abend blieb.

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Cornelius W. M. Oettle kam in der kältesten Novembernacht des Jahres 1991 in Stuttgart zur Welt und weiß nicht, warum. Zur Überbrückung seiner Lebenszeit schreibt er als freier Autor für alle, die sich ihn leisten können. Seine Tweets aber sind und bleiben gratis.

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kari

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