Die Wahrheit: Warten auf das Omikron

Morgens vor dem Fernseher sitzen und sich über die neuesten Inzidenzzahlen freuen, das können die Rangen gut. Lockt doch die Schulschließung…

Der Nachbar aus dem vierten Stock geht am Fenster vor meinem Schreibtisch vorbei. Normalerweise grüßt er freundlich. Diesmal versucht er, schnell vorbeizuhuschen. Aber ich sehe sofort, was er da unerkannt ins Haus zu schmuggeln versucht: zwei Großpackungen Klopapier.

Verdammt. Ist es schon wieder soweit? Kann, ja muss man schon wieder Klopapierwitze machen? Die gute Nachricht lautet: Nein! Es scheint sich in dieser Pandemie zwar alles zu wiederholen, aber Klopapierknappheit und Klopapierwitze gehören erkennbar nicht dazu. Nur Hardcore-Nostalgiker wie ich klammern sich verzweifelt an die guten, alten Zeiten und hauen halt noch mal klodeckelhart so ein Ding raus. Ist doch schön, dass es vorangeht.

Die schlechte Nachricht ist, dass ansonsten wirklich alles genauso abläuft wie im Jahr zuvor. Die Kinder sitzen vor der Schule beim Frühstück und gucken Morgenmagazin im Fernsehen. Sie warten gespannt auf die neuesten Inzidenzzahlen. Juchu, wieder über 70.000! Sie betrachten das sportlich. Als Pokal lockt die Schulschließung. Das haben sie schon verstanden, dass es rein gar nichts bedeutet, wenn die Politik störrisch betont, dass es die nicht mehr geben werde. „Das haben sie letztes Jahr um die Zeit auch gesagt!“ Ich fürchte, sie halten das schon für eine Art Weihnachtsbrauch. Statt Warten auf das Christkind nun eben Warten auf das Omikron.

Als neulich vermeldet wurde, dass Alice Weidel und Björn Höcke sich mit Corona infiziert haben, erklang ebenfalls Jubel vom Frühstückstisch. Es wiederholt sich wirklich alles. „Das ist kein Grund zum Jubeln“, setzte ich also an, „man freut sich nicht, wenn andere Menschen krank sind.“ Sie schauten mich verständnislos an: „Aber das sind doch Faschisten?“ – „Ja, schon. Aber das hatten wir doch letztes Jahr schon, als Donald Trump Covid hatte. Man freut sich grundsätzlich nicht über das Leid anderer.“ Die Kinder nicken nachdenklich. „Du meinst, weil der ja auch überlebt hat? Es nutzt also gar nichts.“ Ich seufzte.

„Papa, guck mal“, rufen die Kinder eines anderen Morgens. „Je höher der Anteil an AfD-Wählern, desto mehr Infizierte! Heißt das nicht, dass jetzt überdurchschnittlich viele AfD-Wähler sterben?“

In der Tat – Impfverweigerung scheint mir eine zweifelhafte Wahlkampfstrategie zu sein. Auf der Intensivstation bekommt der „Kampf um jede Stimme“ einen ganz neuen Beiklang. Vielleicht sollte die Antifa, die bei uns vorm Haus ständig gegen ein „Querdenker“-­Christen-Café protestiert, noch einmal darüber nachdenken, ob sie wirklich weiter gegen Impfgegner demonstrieren will. Oder ob sie Omikron nicht als natürlichen Verbündeten betrachten sollte. Guter Name, auf jeden Fall: das Omikron-Armageddon.

Ich schalte den Fernseher aus und schicke die murrenden Kinder zur Schule. „Genießt es!“, rufe ich ihnen hinterher: „Wer weiß, wie lange ihr da überhaupt noch hinkönnt.“

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Heiko Werning ist Reptilienforscher aus Berufung, Froschbeschützer aus Notwendigkeit, Schriftsteller aus Gründen und Liedermacher aus Leidenschaft. Er studierte Technischen Umweltschutz und Geographie an der TU Berlin. Er tritt sonntags bei der Berliner „Reformbühne Heim & Welt“ und donnerstags bei den Weddinger „Brauseboys“ auf und schreibt regelmäßig für Taz und Titanic. Letzte Buchveröffentlichung: „Vom Wedding verweht“ (Edition Tiamat).

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kari

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