Die Wahrheit: In der Italo-Spielhölle
Wo ist das Land geblieben, in dem die Zitronen blühen, wo das Arkadien der Jugend, in dem am Automaten liebevoll gedaddelt werden konnte?
A m Tag des EM-Endspiels zwischen England und Italien fasste ich mir ein Herz und besah mir diesen seltsamen Verschlag im Südosten Berlins endlich mal näher. Zwischen den Holzbrettern lugte eine Glasscheibe hervor, beklebt mit Bildern von Roulettetischen und Plastikchips. Als ich die knallroten Jetons sah, klackerte es in meinem Kopf. Da war sie plötzlich, die Erinnerung an meine eigene Zockervergangenheit – in einer Spielhalle, drunten in Italien am Ende des 20. Jahrhunderts.
Ich war neun und fuhr mit meinen Eltern wie jedes Jahr zum Baden in die Toskana in die Nähe von Livorno. Als wir in dem Strandstädtchen Cecina auf dem Weg zum Meer waren, sah ich an der Promenade eine große Traube von Kindern vor einem blinkenden Neonschild: „Arcade/Sala giochi“ – zu Deutsch schlicht Spielhalle.
Hierzulande meint Spielhalle meist siffige Buden, gefüllt mit Glücksspielautomaten, in anderen Ländern der Welt steht er für einen Ort, an dem Kinder und Jugendliche an Automaten Videospiele zocken. Die „Arcade“ gehört in Japan, den USA und eben auch in Italien zur Jugendkultur. In Deutschland starb sie allzu früh bereits in den achtziger Jahren wegen Jugendschützern, die absolut keinen Spaß verstanden.
Für einen Neunjährigen wie mich war die italienische Arcade in Cecina wie ein Portal in eine bessere Welt: Der nach chemischem Tannengehölz riechende Teppich; die blinkenden Lichter der Automaten, die uns Kinder um mindestens einen Meter überragten; und der überforderte Erwachsene am Tresen, der die Kinderhorden in Schach zu halten versuchte. Meine Eltern steckten mir unvorstellbare 20.000 Lire in Münzen zu und setzten sich ins gegenüberliegende Café. Den Stress wollten sie sich im Urlaub nicht antun.
Zwei italienische Jungs winkten mich zu sich, drückten mir eine Plastikknarre in die Hand und zu dritt ballerten wir in „Jurassic Park“ auf ausgebüchste Dinos. Gleich danach bretterten wir in „Daytona USA“ mit einem fetten Nascar-Auto über US-Rundkurse. Und plötzlich hörte ich ihn im Hintergrund. Der knallgelbe Automat sagte: „Hey, hey, come over and have some fun with crazy taxi.“ Das musste ich mir anschauen.
An dem „Crazy Taxi“-Automaten mit eingebautem Lenkrad musste ich als Taxifahrer in einem Zeitlimit Fahrgäste möglichst schnell zu ihrem Ziel kutschieren. War die Zeit abgelaufen, war eine D-Mark, damals 1.000 Lire, nachzuwerfen. Dafür ging ich zur Theke und tauschte die Lire-Münzen gegen die hauseigenen. Sie waren ein wenig kleiner und silbern. Nach ein paar Tagen kannten mich die Arcade-Mitarbeiter bereits sehr gut.
Ich liebte das Spiel „Crazy Taxi“ so dermaßen, weil frei befahrbare Drei-D-Welten damals noch eine krasse Neuigkeit waren. Und so pfiff ich auf das Zeitlimit und erkundete die „City“ mit meinem knallgelben Taxi von nun an jeden Sommer. Nach Corona wird es unbedingt mal wieder Zeit für Cecina. Vor allem jetzt, nachdem die Italiener mal wieder in einem ganz anderen Spiel gewonnen haben.
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