Die Wahrheit: Missionarisches Zoombombing
Wo sind eigentlich die Zeugen Jehovas geblieben? Sie kommen nicht mehr an die Haustüren. Und stehen nicht mehr in den Passagen.
C orona macht auch den Zeugen Jehovas das Leben schwer. Ihre Signature-Tätigkeit ist es ja, an fremden Türen zu klingeln und zu versuchen, den Menschen eine besonders skurrile Version des Christentums anzudrehen. Wobei man darüber streiten kann, ob die absurden Zahlenspiele der Zeugen in Bezug auf das Ende der Welt oder ihre crazy Sonderlehren – zum Beispiel: Bluttransfusionen sind haram, Weihnachten ist ein heidnisches Fest und Fan eines Fußballvereins zu sein, ist Götzendienst – wirklich bizarrer sind als die Jungfrauengeburt, die Prädestinationslehre oder die Eine-Oblate-wird-in-echt-zum-Leib-Christi-Nummer der Konkurrenz.
Auf alle Fälle verzichten die Zeugen zurzeit auf den sogenannten Haus-zu-Haus-Dienst, weil sie ihre „Verkündiger“ nicht als Superspreader durch die Treppenhäuser der Republik schicken wollen. Immerhin. Auch an den Bahnhöfen stehen sie nicht mehr mit ihren Zeitschriften-Trolleys. Seltsamerweise vermisse ich sie irgendwie.
Ich habe ja schon des Öfteren davon berichtet, dass ich als Kind Mitglied dieses Vereins war. Und ich bin deswegen … hm … wie formuliere ich das jetzt höflich? Vielleicht so: Missbrauch hat viele Gesichter. Bei mir war es ein emotionaler, der mich üblicherweise nicht gerade freudig in die Hände klatschen lässt, wenn zwei Prediger vor meiner Tür stehen.
Andererseits variiere ich da gern das Zitat von Franklin D. Roosevelt über den Diktator Somoza: Die Zeugen Jehovas mögen zwar irre Fundamentalisten sein, aber sie sind meine irren Fundamentalisten. Ich weiß, wie sie ticken und wo ihre Schwächen sind. Ich kenne mich mit ihnen aus. Und das gibt mir stets, wenn ich sie sehe, ein gruseliges Gefühl der Vertrautheit. Vielleicht fehlt mir zur Zeit dieser wohlige Schauer.
Statt face to face zu missionieren, schreiben sie nun Briefe. Mit der Hand und mit persönlicher Anrede. Bei Menschen, die normalerweise unaufgefordert an fremden Türen klingeln, hätte ich, ehrlich gesagt, etwas Dynamischeres erwartet. „Zoombombing“ zum Beispiel: Sich in Zoom-Konferenzen einhacken und mitten in einer Marketing-Diskussion freundlich lächelnd einwerfen: „Haben Sie sich schon mal gefragt, warum es soviel Elend auf der Welt gibt?“ Aber vielleicht fehlt ihnen dazu das technische Know-how.
Rätselhaft ist mir, wie sich die Zeugen nun ihre Immobilien für die Zeit nach dem Jüngsten Gericht aussuchen. Ich habe es selbst mal erlebt und andere berichteten mir ähnliches: Wenn die Verkündiger in Vierteln mit hübschen Einfamilienhäusern oder gar Villen von Tür zu Tür gehen und jemand ihnen klar zu verstehen gibt, dass er kein Interesse hat, dann sagt die erfahrene Zeugin auch schon mal zu Nachwuchs-Zeugen: „Siehst du, und dieser Mann wird bei Harmagedon vernichtet. Und dann kannst du mit deiner Familie in sein Haus einziehen.“
Jehova ist nicht nur ein grausamer, sondern anscheinend auch ein recht spendabler Gott.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut