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Die WahrheitDie Wirtschaft bin ich

Nicht erschrecken, liebe Revolutionäre! Aber tretet in die FDP ein und kauft Aktien von Konzernen, bei denen Eure Freunde arbeiten.

D ie linksradikalen Schlauköpfe in meinem Freundeskreis wissen alle ganz genau, wie das Leben nach der Revolution aussehen soll. Das Problem ist nur: Sie haben keine Ahnung davon, wie man eine Revolution anzettelt. Seit Ewigkeiten schon schreiben sie clever und gewitzt und logisch über die Absurdität des Kapitalismus – und was machen die Leut? Wählen kapitalfreundlich wie eh und je. Wer wirklich eine Revolution anzetteln will, der sollte sich nicht der Linken anschließen, sondern der FDP!

Der Trick besteht darin, den Fokus und damit den revolutio­nären Zorn nicht auf ein Abstraktum wie „die Konzerne“ oder „den Kapitalismus“ zu richten. Sondern auf unsereins. Niemanden kann man so leidenschaftlich hassen wie die Menschen aus dem persönlichen Umfeld. Die Börse macht genau das möglich: Kauft euch ein paar Aktien des Konzerns, bei dem eure Bekannten, die von revolutionären Ideen nicht allzu viel halten, angestellt sind. In meinem Stuttgarter Fall also Daimler.

Die Angestellten dort sind in der Regel keine Kommunisten, sie halten sich sogar für privilegiert. Ihre Gehälter sind überdurchschnittlich. Denen könnt ihr noch so oft mit Marx kommen. Ihr könnt anschaulich erklären, dass ein Arbeitnehmer in einem börsennotierten Weltkonzern immer ausgebeutet wird, weil es sich sonst ja nicht lohnen würde, ihn als Arbeitnehmer anzustellen. Ihr werdet aber nicht zu ihnen durchdringen und erst recht keine Wut auf den Daimler, den großen Geber der Region, schüren können. Im Gegenteil: Die schwärmen noch davon – so toll der Job, so spannend die Projekte!

Seit ich Daimler-Aktien besitze, danke ich bei jeder Gelegenheit meinen konservativen Bekannten für die großzügige Ausschüttung und die satten Kursgewinne, die sie auch in diesem Jahr wieder für mich erarbeitet haben. Ganz egal, ob ich sie auf dem Straßenfest, beim Weihnachtsessen oder während des Sonntagsspaziergangs treffe. Manchmal fordere ich auch ein bisschen mehr Leistung.

Wenn meine fleißigen Bienchen dann wegen Arbeitsstress, Kunden, Zulieferern oder Chinesen wichtigtuerisch stöhnen, weise ich darauf hin, dass ich ihren Einsatz zu schätzen wisse, mir aber als Aktionär die Hände gebunden und dies nun mal Aufgaben der Belegschaft seien, bei denen ich nicht helfen könne. Ich streiche nur die Gewinne ein.

Als ebenjenen Bekannten mit der Zeit aufging, dass sie jeden Morgen auch für mindestens einen faulen Sack wie mich aufstanden, verloren sie zusehends die Freude an ihrem vorher so wundervollen Job. Auch den konservativ-liberalen Lieblingssatz „Wir müssen die Wirtschaft retten“ habe ich von ihnen seither nicht mehr gehört, weil er ja immer auch bedeutet, Typen wie mich zu retten. Die Wirtschaft, das bin jetzt ich.

Härtefällen schicke ich auch Fotos von Neuanschaffungen wie Rolex oder Ferrari – mit dem Wort: „Danke!“ Auf diese Weise wurden schon langjährige CDU-Wähler schneller zu Sozialisten, als ich „Finanztrans­aktionsteuer“ sagen konnte. Und so, liebe Genossinnen und Genossen, geht Revolution.

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Cornelius Oettle
Cornelius W. M. Oettle kam in der kältesten Novembernacht des Jahres 1991 in Stuttgart zur Welt und weiß nicht, warum. Zur Überbrückung seiner Lebenszeit schreibt er als freier Autor für alle, die sich ihn leisten können. Seine Tweets aber sind und bleiben gratis.
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