Die Wahrheit: Weil wir alle wahnsinnig wurden

Die von den Vereinten Nationen soeben ins Leben gerufene Organisation WOKESCO hat 2020 doch noch zum vollendeten Scheißjahr erklärt.

Illustration. Sie zeigt: einen Mann mit Mundschutz, der auf der Sohle seines rechten Schuhs Scheiße kleben hat. Auf der Scheiße steht "2020". Mehrere Figuren schauen vom Bildrand aus auf den Mann

Illustration: Ari Plikat

Kurz vor Ende dieses deprimierenden Jahres haben die Vereinten Nationen (UNO) verfügt, das Jahr 2020 künftig mit einem speziellen Warnhinweis zu versehen: Eine Freigabe wird nicht erteilt. Vorausgegangen war dieser umstrittenen Entscheidung die Gründung einer entsprechenden Abteilung, vergleichbar der UN-Flüchtlingskommission UNHCR, dem Kinderhilfswerk UNICEF und der Kulturorganisation UNESCO. Künftig wird also die WOKESCO darüber entscheiden, ob gewisse Jahre ganz aus dem Geschichtsbuch gestrichen – oder mit einer Triggerwarnung versehen werden.

Bei ihrer Beurteilung der Vergangenheit orientiert sich die WOKESCO an ebenfalls „woken“ Streamingdiensten wie Netflix oder Disney, wo bereits ein geschärftes Bewusstsein für Schlimmes obwaltet und damit automatisch Gutes tut. Schon im vergangenen Jahr war Vergangenes einer kritischen Prüfung unterzogen und mit einem – leider allzu simplen Hinweis – versehen worden: „Geschichte wird so gezeigt, wie sie ursprünglich erstellt wurde. Sie kann veraltete kulturelle Darstellungen enthalten.“

Ursprünglich wurde erwogen, Jahre mit „negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft“ komplett aus der Erinnerung zu löschen. Statt aber 1939, 1940, 1941, 1942, 1943, 1944 und 1945 zu streichen, will die WOKESCO sie aus pädagogischen Gründen im Programm behalten und mit einem Hinweis zu Diskussionen anregen: Was genau können wir mit unserem heutigen Wissen am Konzept des Vernichtungskriegs nicht mehr dulden? Den Krieg oder die Vernichtung? Wie lässt sich der Eindruck vermeiden, die industrielle Ermordung von sechs Millionen Menschen sei „eigentlich ganz okay“ gewesen?

Zu groß ist die Gefahr, dass Unbeteiligte über eine bestimmte Jahreszahl stolpern und so versehentlich erfahren, was sich damals empörenderweise tatsächlich so zugetragen hat. 1904 beispielsweise wirkt vergleichsweise harmlos. Als sensibler Historiker kann man sich über die Erfindung des Kleiderbügels und der Schneeketten freuen, kommt aber um den Genozid an den Herero nicht herum.

Um hier jeder möglichen Verstörung vorzubeugen, wurde 1904 von der WOKESCO mit folgendem Hinweis versehen: „Dieses Jahr beinhaltet negative Ereignisse und/oder Misshandlungen von Menschen oder Kulturen. Diese Stereotype waren damals falsch und sind heute falsch. Anstatt diese Inhalte allerdings zu entfernen, wollen wir ihre schädliche Wirkung anerkennen, aus ihnen lernen und Gespräche anregen, um eine stärker integrative, gemeinsame Zukunft zu schaffen.“

Kniffliger Fall voller Gewalt

Diskutiert wurde ein entsprechender Hinweis für das Jahr 1938. Die ­WOKESCO störte sich, wie man hört, an der „Reichspogromnacht“. Empfohlen wurde, das brutale Kunstwort durch einen bekömmlicheren Begriff wie etwa „Reichskristallnacht“ zu ersetzen.

2020 aber war für die WOKESCO ein besonders kniffliger Fall. Es enthielt rassistische Ausschreitungen, antirassistische Ausschreitungen, idiotische Ausschreitungen („Querdenker“), Gewalt gegen Minderheiten, Gewalt durch Minderheiten sowie zahlreiche kriegerische Auseinandersetzungen. Positiv verzeichnet wurde nur die Erfindung eines Impfstoffs und die gnädige Abwahl eines älteren US-Politikers, der volle vier Jahre von der Weltöffentlichkeit „fat shaming“ erdulden musste.

Eine Wiederholung von 2020, nur „diesmal in gut“, kam laut WOKESCO nicht infrage – um Betroffene nicht zu retraumatisieren, wie es heißt. Demnach verhinderten fanatische Radikalfeministinnen in letzter Minute eine Umbenennung von 2020 in „Elliot Page“ – nach jener Transperson, die mit ihrem geschlechterübergreifenden Wesen einen ganz erheblichen Einfluss nicht nur auf den von ihr gewählten Beruf der Schauspielerei gewann.

Eine Umbenennung in „George Floyd“ scheiterte am Veto der Profiteurinnen und Profiteure von strukturellem Rassismus. Zunächst abgelehnt wurde auch der Vorschlag, 2020 künftig schlicht „das Scheißjahr“ zu nennen, „in dem wir alle wahnsinnig wurden“. Dagegen wendete sich vor allem der sprichwörtlich „kleine Mann“, der sich zu den notorisch „Beschissenen“ zählt. Schließlich seien in diesem Scheißjahr, in dem wir alle wahnsinnig wurden, auch Kinder geboren worden, die dann als Geburtsdatum „3. Februar im Scheißjahr, in dem wir alle wahnsinnig wurden“ angeben müssten. Fürsprecher hatten geltend gemacht, dass 2020 erst im Frühjahr so richtig fürchterlich wurde, sich gegen Ende aber doch wieder halbwegs fangen konnte, also ungefähr mit 1918 oder 2001 zu vergleichen sei.

Ebenfalls abschlägig beschieden wurde der Vorschlag, 2020 durch einen „Sprechakt“ kurzerhand zu einem „internationalen Spitzenjahr mit Pfiff“ umzudeklarieren – dergleichen wird von der Gesellschaft nachweislich nur beim biologischen Geschlecht anerkannt.

Bitte blättern sie weiter im Geschichtsbuch

Zuletzt einigte sich die WOKESCO also auf einen etwas umständlichen, dafür aber umso umfassenderen Warnhinweis, der auch Zweifel duldet und kommenden Generationen zur Mahnung dienen soll: „Dieses Jahr beinhaltet negative Ereignisse und/oder Misshandlungen von Menschen oder Kulturen, Pleiten, Pech und Pannen. Diese Ereignisse waren damals falsch und sind heute falsch. Vermutlich werden sie auch zukünftig falsch bleiben. Falsch, falsch, falsch.

Besser wäre es, die negativen Ereignisse und/oder Misshandlungen hätten nie stattgefunden. Haben sie aber. Menschen mit hohen moralischen Ansprüchen an die Vergangenheit oder Gegenwart, Schwangeren, Hygienikern, Germanophoben und Germanophilen, Glutenunverträglichen, Nichtrauchern und Mitgliedern jedweder communities wird daher dringend abgeraten, sich mit diesem Jahr zu beschäftigen. Es kann sogar Spuren von Nüssen enthalten!

Bitte blättern sie weiter im Geschichtsbuch, es gibt nichts zu sehen. Es gibt auch nichts zu verstehen. Es war einfach ein Scheißjahr, in dem wir alle wahnsinnig wurden, nicht zu vergleichen mit 1918 oder 2001. Ein Jahr wie, seien wir ehrlich, alle anderen Jahre seit Beginn der Menschheitsgeschichte auch. Wobei das rund 70.000 Jahre sind, von denen nur sehr wenige unserem gestrengen Urteil standhalten dürften. 536 war auch fürchterlich! Und 2084 könnte sogar noch schlimmer werden! Kommt halt drauf an, wen man fragt. Man muss alle fragen, das dauert.

Bis auf Weiteres erhält also 2020 keine FSK-Freigabe. Anstatt aber alle seine toxischen Inhalte zu entfernen, wollen wir ihre schädliche Wirkung anerkennen, aus ihnen lernen und Gespräche anregen, um eine stärker integrative, gemeinsame Zukunft für die gesamte Menschheit zu schaffen.“

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