Die Wahrheit: Gewalt mit Größe
Wenn eine der beiden Lieblingstöchter in die Länge schießt und der Arzt einen Spezialisten empfiehlt, hüpft das väterliche Herz im Dreieck.
M eine Lieblingstochter ist zwölf Jahre alt und 171 Zentimeter groß. Neulich stand sie neben mir und meinte triumphierend: „Hey, Kleiner, meine Beine sind schon so lang wie deine!“ Das Kind hat, neben meinem Sarkasmus und meinem exquisiten Musikgeschmack, leider auch meine delikate Kombination aus Knick-, Senk-, Spreiz-, Hohl- und Plattfuß geerbt.
Lange konnte ich diese Tatsache mit der Hoffnung überspielen, hierbei handele es sich um einen evolutionären Fortschritt. So stellte ich etwa die Möglichkeit in Aussicht, spätestens unsere Nachfahren würden vermittels der Saugnapfwirkung ihrer überlegenen Spezialfüße in der Lage sein, an Wänden und Decken entlangzuspazieren. Irgendwann aber mussten wir der Wahrheit ins Auge blicken. Das Mädchen braucht Einlagen.
Also verfügten wir uns zum Orthopäden. Gründerzeitvilla, knarzendes Parkett, edle Freischwinger, koloniale Schnitzkunst an den Wänden. Die Zwölfjährige zog ihre Schuhe aus, der Arzt kam rein und sagte sofort: „Einlagen“, das wusste ich schon, und: „Ich schreibe Ihnen ein Rezept!“, das brauchten wir. Dann stutzte der Knochenspezialist und fragte meine Tochter: „Wie alt bist du? Zwölf? Und wie groß willst du noch werden?“
Das Kind wurde rot. Ich übernahm: „Die wird so groß, wie sie will. Wollen Sie uns jetzt das Rezept schreiben?“ Es ließ aber der Arzt nicht locker und stellte meine Tochter kurzerhand an die Wand. „171 Zentimeter“, sagte er und pfiff durch die Zähne, um sich dann vertrauensvoll an mich zu wenden: „Drüben in Mainz gibt es einen Spezialisten“, informierte er mich und das beistehende Kind, „der kann ermitteln, wie groß ein Kind mal werden wird. Da kann man etwas tun. Ich habe meine eigene Tochter auch dort hingeschickt, weil ich fürchtete, das wird ’ne Meterneunzigfrau.“
Gern hätte ich in diesem Moment eine Stecknadel zur Hand gehabt, um sie fallen zu lassen. „Und wie kann der dann etwas tun, der Herr Professor? Mit der Knochensäge vielleicht?“
Der Mann stammelte noch etwas von „Hormonen“, da trat ihm meine Tochter mit ihren Beinen, die schon so lang sind wie meine, von hinten in die Kniekehlen. Ich packte den edlen Freischwinger und versetzte ihm damit einen Schlag gegen die Schläfe, mit besonders viel Schwung. Seine Brille flog in hohem Bogen auf den Boden, wo ihr meine Tochter mit einem ihrer Plattfüße einen kurzen Prozess machte.
Unterdessen nahm ich behutsam eine hölzerne Fruchtbarkeitsgöttin von der Wand (Benin, präkolonial), um damit unserem Opfer den Kiefer zu zertrümmern. Zuletzt trieben wir dem Arschloch mit einem kunsthandwerklichen Phallus (Burkina Faso, 16. Jahrhundert) den Mundschutz tief in den Rachen.
Sorry, nein, das war jetzt eine typisch väterliche Gewaltfantasie. In Wahrheit habe ich nur toxisch gekichert und das Rezept entgegengenommen. Meine andere Lieblingstochter wird übrigens noch größer. Ich freue mich schon drauf.
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