Die Wahrheit: Feine Pinkel und robuste Haufen
Die merkwürdigsten Museen der Welt (10): Das geräumige Nachttopfmuseum im niedersächsischen Wasbüttel. Gleich neben Calberlah.
Dienstagmorgens um halb zehn in Niedersachsens tiefster Tiefebene. Ich fahre durch Wasbüttel. „Hassbüttel“, scherzen die Nachbardörfler aus Calberlah seit Jahrhunderten. Die Straßen sind leer gefegt, weil die erwachsene Bevölkerung im Volkswagenwerk nebenan knechtet, und die anderen das tun, was Niedersachsen an einem Dienstagmorgen nun mal so tun. Vermutlich Schnaps saufen.
Eine einzige Verkehrszählerin steht in orangefarbener Warnweste am Straßenrand und führt eine Strichliste. Ich sehe ein kurz aufflammendes Glück in ihren Augen, als ich vorbeifahre, bevor sie in ihre Gleichgültigkeit zurückfällt, den gewöhnlichen Aggregatzustand des hiesigen Menschenschlags. Ich verkneife mir aber jede Sottise. Meine Wurzeln liegen in einem nur wenige Kilometer entfernten Kaff. Am Ende kennt die mich und petzt alles meiner Mutter. Keiner möchte an meine Mutter verpetzt werden, so viel darf ich sagen.
Ich biege ab ins Neubaugebiet, jene Gegend, in dem die Trostlosigkeit des Plattlands seine volle Durchschlagskraft entfaltet. Aber nicht so in Wasbüttel, denn hier hat im Jahr 2004 eine mindestens mittelgroße Attraktion ihre Kellertür geöffnet, das einzige Nachttopfmuseum Deutschlands, ja, vielleicht sogar der Welt.
Ich bin verabredet mit der Kuratorin Elisabeth Hesse, denn in ihrem geräumigen Untergeschoss hat dieser Pisspott-Heaven seine Heimstatt. Sie öffnet mir schon, bevor ich den Spülkastenzieher betätigen kann, der hier stilecht die Klingel ersetzt. Frau Hesse ist eine weißhaarige, immer noch sehr drahtige Dame, die mich mit souveräner Landfrauenverve durch ihre Schatzkammer geleitet. In über dreißigjähriger Sammeltätigkeit hat sie viele hundert Exponate aus der Kulturgeschichte der Notdurft zusammengetragen. Vom zierlich bemalten Porzellantöpfchen, den mal ein offenbar ganz kleiner, aber feiner Welfenpinkel in Gebrauch hatte, bis zum robusten „Kübel“ des Bergmanns. „Da passt ganz schön was rein, was?“, sagt Frau Hesse und strahlt. Ich merke mir: Bergmänner machen größere Haufen als Welfenprinzen.
Den Gestank hält keiner aus
„Schauen Sie mal“, lässt sie mich in einen schon etwas lädierten Topf hineinsehen. „Der war lange in Gebrauch, die Ränder gehen nie wieder raus.“ Etwas später erzählt sie noch eine andere Geschichte aus dem Alltag einer Museumsbetreiberin. „Neulich ist mir mal ein Pott aus Steingut heruntergefallen. Ich wollte die Scherben im Hausmüll entsorgen, aber das ging nicht, den Gestank hält keiner aus. Der zieht richtig rein ins Material.“
Wir machen Halt an ihrer Ostzonenabteilung, in der sich sehr schön Frau Hesses unideologische, kosmopolitische Herangehensweise manifestiert. Tatsächlich beweisen die Exponate hier, dass der VEB Steingut in Torgau nicht nur absolut konkurrenzfähige Produkte herstellte, sondern in Sachen Qualitätsdesign und Sitzkomfort ganz vorne mit dabei war.
Nach anfänglicher Konzentration auf den Nachttopf im Besonderen hat sich Frau Hesse diversifiziert und ist en passant zu eine Spezialistin des allgemeinen WC-Wesens avanciert. Man kann bei ihr nicht nur Toilettenstühle aus vier Jahrhunderten besichtigen, alle noch voll funktionsfähig, bequem und jederzeit einsatzbereit, sondern auch historische Arschwische, Emailleschilder, die von vergangenen Scheißhausregularien künden, und verdauungsfördernde Klosprüche galore. „Hier, mein Freund, sieht jedermann, / was er aus sich machen kann. / Hat er dann sein Werk getan, / schaut er froh sein Päckchen an …“
Graben als Latrine
Diesen Produzentenstolz kennen übrigens nicht nur Mitteleuropäer, wie man aus einer kleinen Sammlung völkerkundlicher Exkurse lernen kann. „Der Polarforscher Dr. Hayes berichtete von der Neigung der Eskimos an der Ostküste von Grönland, den Graben hinter der Hütte als Latrine zu benutzen. Er versuchte vergebens, diesen Brauch bei den ihn begleitenden Eskimos zu verhindern, kam jedoch zu der Ansicht, dass sie einen gewissen Stolz dareinsetzen, in die Augen fallende Spuren ihrer Anwesenheit zu hinterlassen.“
Aber Glauben und Kirche, die ewigen Spielverderber unserer Kultur, haben natürlich auch mal wieder was herumzukamellen. „Bei den Mönchen im alten Irland galten die Aborte und Pisshäuschen als Aufenthaltsorte der Dämonen. Wer sie betrat, musste einen Segen sprechen.“
Nachttopfmuseum, Am Bartelskamp 10, Wasbüttel
Nach einer guten Stunde verabschiede ich mich von der freundlichen Frau Hesse, froh gestimmt über ihren angenehm unakademischen und indezenten Umgang mit dem Gegenstand, kulturhistorisch bereichert und trotzdem ein bisschen überhastet. Ich muss mal. Und mit den Worten des großen Arnold Hau im Kopf schlage ich mich gleich nach dem Ortsausgang Wasbüttel in die Büsche. „Wer seine Notdurft nicht verscharrt, der soll verstoßen sein tausendfach.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Kurdische Gebiete unter Beschuss
Stoppt die Angriffe Erdoğans auf die Kurden in Syrien!