Die Wahrheit: Hauptstadt des Verbrechens

In Göttingen spielt neuerdings der niedersächsische „Tatort“. Das hat die Stadt und ihre Kriminalität enorm verändert.

In Göttingen zu leben, ist sicher keine Schande. Aber seit rund zwei Jahren ist es mit der früheren Ruhe vorbei, und an die Stelle scheinbarer mittelstädtischer Arglosigkeit ist die Angst getreten. Das kommt vom niedersächsischen „Tatort“, der seitdem vor meinem Fenster abgedreht wird.

Es ist schlimm. Ständig ermitteln die Kommissarinnen Schmitz und Lindholm in Rufweite. Noch halte ich mich raus, werde beim nächsten Mal aber sicherheitshalber ins Drehbuch eingreifen oder selbst den Mörder dingfest machen. Wer die Straßenzüge kennt, die immer wieder gezeigt werden und in denen sich der halbe Film abspielt, kann sie nicht mehr unbelastet entlanggehen. Die Gefahr, dass dort der Mörder der nächsten Folge wohnt, ist einfach zu groß. Noch aber habe ich nichts bemerkt.

Allerdings wundert es mich schon, dass ich als intimer Kenner der Wohnverhältnisse hier noch nicht als Zeuge vernommen worden bin. Ich kenne doch fast jeden in diesem Quartier. Bevor Frau Lindholm spät in der Nacht ihr Kind in Hannover verlässt, um eine morgendliche Vernehmung vorzunehmen, hätte oft schon ein Anruf bei mir genügt, um die Sache abzuklären. Der oder die Verdächtige kann es nicht gewesen sein, ein Alibi liefere ich jederzeit.

Es wundert mich auch immer wieder, dass in den Folgen vom Göttinger „Hauptbahnhof“ die Rede ist, obwohl es doch nur einen Bahnhof gibt. Wie steht es da mit der Recherche? Ist es mal wieder der degoutante Blick auf die Provinz? Aber in der Hinsicht muss sich Göttingen nun wirklich nicht verstecken! Dazu war der Kopf von Fritz Haarmann lange ­genug das Aussichtsziel vieler Göttinger Familien auf ihren Wochenendspaziergängen. Wurde das guillotinierte Haupt des Massenmörders doch jahrzehntelang in der Universitätsmedizin ausgestellt, bevor die Überreste 2015 endlich eingeäschert wurden.

Ob das die Menschen mehr vom Verbrechen abgeschreckt oder sie vielmehr dazu verführt hat, überlasse ich jetzt mal den Drehbuchautoren. Ich will mich aber da nicht ausschließen, weil jeder Spaziergang durch die inkriminierten Straßenzüge meine grauen Gefängniszellen in Schwung bringt.

Meine jüngste Beobachtung gilt da übrigens einer Entwicklung, die auch aktuell aus New York, Paris und Berlin berichtet wird: das Auftauchen von Ratten am helllichten Tage – bei uns zur Mittagszeit unter dem Vogelfutterfutterhäuschen, wo sie sich mit den Spatzen um die letzten Sonnenblumenkerne balgen. Da könnte man vielleicht beim Drehbuch irgendwas mit Tieren machen, so wie bei Corona, das ja spätestens im nächsten Jahr auch im „Tatort“ auftauchen muss.

Göttingen muss sich vor den Metropolen dieser Welt verbrechenstechnisch nicht verstecken. Kommissarin Lindholm sollte mal einen Umzug hierhin erwägen. Und kaum schaue ich aus dem Fenster auf den Leinekanal, schon schwimmt die nächste Leiche vorbei!

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kari

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