Die Wahrheit: Jungaale im Gedankenfluss
Es geht ein Gedanke auf Reisen und nimmt sich selbst zurück. Eine abenteuerliche Erkundungsfahrt durch ein Hirn im Ausnahmezustand.
F alsch abgebogen. Der Gedanke irrte im Kreis. Zur Hölle mit den geregelten Bahnen! Er könnte stattdessen einfach neue Pfade ins kognitive Biotop treten. Doch wohin? An einen Ort, wo es Piña colada regnete und die Synapsen Baströckchen trugen?
Der Gedanke war sich uneins. War es erstrebenswert, dorthin zu gehen, wo noch nie ein Gedanke gewesen war? Ins Heiligste? An den Ort, an dem der Geist seinen eigenen Gott erschuf? Es wirkte sonderbar vertraut. War er Gott? Der Gedanke stutzte. Es könnte wohl sein, dass er sich heftig gestoßen hatte, als er den Hirnstamm hinabgeglitten war. Warum musste er das auch tun? Wenn man eingehender darüber nachdachte, war es grober Unfug.
Andererseits hatte auf dem Schild am oberen Ende der letzten Hirnwindung „Spaßfaktor Zukunft“ gestanden. Spaß, war es das gewesen? Wollte er ausbrechen aus dem alten Trott und Neues erleben? Nein, Neues erdenken! Es traf den Gedanken hart und unvermittelt. Es gab nichts mehr zu erleben, die äußeren Reize waren versiegt. Deshalb blieb es so schummerig hier drin! Er war auf sich allein gestellt.
Und warum in aller Welt roch es so seltsam hier? Durchgeschmorte Hirnwindungen? Waren das überhaupt noch Hirnwindungen oder schon Darmzotten? Wie war er hierhergekommen? Der Gedanke hatte oft vom sozialen Abstieg gehört. Konnte es sein, dass er unbemerkt zum Bauchgefühl degradiert worden war?
Der Gedanke bemerkte, dass er allein war; dass es auf der ganzen Welt nur einen Gedanken gab; dass ein Gedanke der gesamte Geist war. Seine Welt war dieser Ort. Dieser Ort war die Welt. Eine innere Projektion der äußeren Umstände. Fehlerhaft. Dem Gedanken wurde schlecht. Woher kam nur dieser Gestank? War er für den Ausfall der Reize verantwortlich? Oder brüteten Borkenkäfer unter der Hirnrinde? Der Gedanke verwarf sich. Er drehte am Kreisverkehr um. Hier unten würde er keine Antworten finden.
Auf halbem Weg kam ihm der Würgereflex entgegen. „Ich hab mein Bestes getan!“, keuchte er und schleppte sich fort. Der Gedanke sah ihm hinterher. So kaputt hatte er den alten Miesepeter noch nie gesehen.
Im Kleinhirn feierten sie Neuronenfasching. Der Gedanke huschte ungesehen vorbei. Er hasste Ausgelassenheit, er war ein ernsthafter Zeitgenosse. Er stieg die steile Treppe der Erkenntnis hoch bis in die oberste Etage der Denkfabrik. Der Stuhl des Direktors war verwaist. Der Gedanke wusste nicht, was ihn hierhergeführt hatte, aber er war sich sicher, dass er seinen Platz gefunden hatte. Er ließ sich in den großen gepolsterten Ledersessel sinken.
Der Gedanke blickte sich um. Jemand hatte auf dem Schreibtisch vor ihm einen grellgelben Notizzettel hinterlassen. „Flausensieb reinigen, Jungaale im Gedankenfluss.“ Es traf ihn wie ein Blitz. Mit einem Mal war alles wieder da. Der Gedanke knüllte das Papier beherzt zusammen und schlug auf den roten Knopf vor sich. „Neustart!“
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