Die Wahrheit: Die Auferstehung der Leberwurst

Storytelling vom Leckersten: die abgeschlossene Wahrheit-Kurzgeschichte über Hühnlein, dem vielleicht einsamsten Menschen der Welt.

Blick in den Kühlschrank.

Dem Beamten bot sich ein Bild des Grauens Foto: dpa

„Niemals, ich esse dich nicht!“ Hühnleins Stimme überschlug sich. Er hasste Leberwurst. Die roch wie Katzenfutter und Gekröse. „Iss mich!“, flehte die Leberwurst wieder. Hühnlein schwoll der Hals, wenn er nur daran dachte. Diese ekelhafte Wurst würde er nie und nimmer essen. Auch nicht, wenn sie jetzt schon seit drei Jahren sein bester Freund war. Und was konnte er dafür, dass die Wurst depressiv und lebensmüde war?

Hühnlein wollte viel lieber Erdbeergelee! Er war dermaßen unterzuckert, manchmal glaubte er, er sähe Dinge, die gar nicht da waren. Manchmal schmeckte er auch Dinge, die gar nicht da waren. Oder waren sie es doch? Hühnlein nahm sein Gebiss heraus und stocherte mit einer Stecknadel in den Zwischenräumen. Irgendetwas schmeckte schon seit Tagen faulig in seinem Mund.

„Iss mich doch endlich!“, flehte die Leberwurst erneut. Ihre grün-graue pelzige Haut zitterte. „Leck mich am Arsch!“, brüllte Hühnlein, nahm den geblümten Teller, auf dem die Leberwurst wohnte, und stellte ihn in den Kühlschrank. Er knallte die Tür zu, dass die Milchflaschen nur so klimperten. „Das hast du jetzt davon!“, raunzte er und ging zurück zum Tisch.

Er nahm sein Gebiss in die Hand und angelte eine Blechdose mit Universalverdünnung aus dem Regal. Der orangefarbene Aufkleber weckte wehmütige Erinnerungen. „Drei Mark achtzig, Sonderangebot.“ Hühnlein schmiss sein Gebiss in die Kaffeetasse. Dann kippte er den gesamten Inhalt der Dose in die Tasse. Zufrieden sah er zu, wie es blubberte und zischte. Die Dämpfe ließen eine wohlige Wärme in seinem Kopf aufsteigen.

Das Gejaule

Hühnlein kam ein merkwürdiger Gedanke: Vielleicht war es an der Zeit, seine Wohnung mal wieder zu verlassen? Vielleicht könnte er neues Erdbeergelee kaufen. Er hatte wahrlich keine Lust mehr, jeden Tag zum Frühstück die olle Leberwurst anzuschauen. Ihr Gejaule ging ihm wahnsinnig auf die Nerven.

Das Zischen in der Kaffeetasse hatte nachgelassen und Hühnlein fischte sein Gebiss mit einer Gabel heraus. Es blitzte und strahlte wie am ersten Tag. Jetzt war er bereit, sich eine Hose anzuziehen. Eine richtige Hose. Aus feinem Krokodilleder, mit Messingknöpfen. Dann würde er einkaufen gehen.

Es klingelte an der Tür. Hühnlein blieb keine Zeit, eine Hose zu holen. Sogleich trabte er zur Tür und sah durch den Türspion. Draußen im Regen stand ein schäbiger Kerl mit Zigarette und Klemmbrett. „Was wollen Sie?“, plärrte Hühnlein durch die geschlossene Tür. „Mit ihnen reden, Herr Huhn“, sagte der Typ. „Hühnlein, Sie Ochse!“, brüllte Hühnlein erbost. „Entschuldigen Sie, dann steht das hier falsch in den Unterlagen.“ – „Welche Unterlagen?“ – „Kann ich reinkommen?“

Die Chance

Hühnlein knurrte. Sachte öffnete er die Tür. Der Mann stellte einen Fuß in den Türspalt und drückte sie auf. Hühnlein stolperte nach hinten und ging zu Boden. Der Mann warf sich auf ihn und setzte sich mit Karacho auf seinen Bauch, so dass es Hühnlein die Luft aus den Lungen trieb. „Guten Tag, ich bin Hilmar Hülsenstroh, Chefreporter des Grunzdörfer Generalanzeigers, darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“ Der Mann hielt ihm ein Diktiergerät vor die Nase. „Nein“, knurrte Hühnlein. „Nicht so voreilig, das hier ist eine einmalige Chance für Sie, begreifen sie das?“ – „Wohl kaum“, sagte Hühnlein. – „Sie sind laut Aufzeichnung der einsamste Mensch der Welt. Noch dazu pensionierter Raubtierdompteuer und Gefäßchirurg.“ – „Das stimmt nicht.“

„Hmm …“, brummte der Mann. „In meinen Unterlagen steht, dass Sie, Friedbert Huhn, der einsamste Mensch der Welt sind.“ – „Das war mein Nachbar, der wohnte gegenüber. Der ist aber letztes Jahr an Langeweile gestorben.“ – „Oh, das ist aber schade.“ – „Könnten Sie jetzt ihren ekelhaften Leib von mir herunter heben, bitte?“ – „Momentchen noch“, sagte der Reporter. „Wenn der alte einsame Langweiler von gegenüber tot ist, dann könnte man doch sagen, dass Sie jetzt der einsamste Mensch der Welt sind.“ – „Ich weiß nicht“, meinte Hühnlein. „Sie würden mir einen riesigen Gefallen tun, ach bitte!“ – „Sie sollten jetzt wirklich runtergehen von mir. Kann sein, dass ich gleich mal für einsame alte Männer muss.“

Der Reporter stieg von Hühnlein herunter und half ihm auf. „Also, haben wir einen Deal?“ – „Na, meinetwegen. Sie können Ihre Journalistenscheiße durchziehen.“ – „Ach, das freut mich ungemein!“ Der Reporter hüpfte auf und ab. „Na gut, ich muss jetzt erst mal aufs Klo. Gehen Sie doch in die Küche, Kaffee ist auch noch da“, erklärte Hühnlein.

Nach seinem Klobesuch fühlte sich Hühnlein sagenhaft erleichtert. Flinken Schrittes trat er in die Küche. Er war bereit, dem Reporter zum Dank die beste Lügengeschichte aufzutischen, die er sich vorstellen konnte. Der Reporter nahm gerade die Tasse vom Tisch und führte sie zum Mund.

„Nicht doch!“, keuchte Hühnlein und hechtete über den Tisch. Doch es war zu spät. Der Reporter gurgelte und würgte. Zitternd fiel er vom Stuhl und knallte vor dem Kühlschrank auf den Boden.„Mann, was machst du denn? Wieso säufst du meine Verdünnung?“

Noch nicht!

Der Reporter antwortete nicht. Er starrte aus weit aufgerissenen Augen an die Decke. Mit einem leisen Quietschen tat sich die Kühlschranktür auf. Der Geist der Leberwurst strömte heraus. „Höre, Hühnlein! Vielleicht vermag ich zu helfen“, zischelte er. Hühnlein schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Was kannst du schon tun? Der ist hinüber!“ – „Noch nicht“, raunte es aus dem Kühlschrank. „Lass mich in ihn eindringen!“, forderte die Leberwurst auf ihrem Blümchenteller. Der Geist der Leberwurst stürzte hinab, wie ein Mäusebussard auf der Jagd, direkt auf den offenen Mund des leblosen Reporters zu. Die pelzige Wurst presste sich durch die Speiseröhre bis ins Innerste des Mannes. Sein Leib zuckte. Hühnlein sah wie paralysiert zu. Er konnte nicht fassen, was geschah.

Der Reporter sog zischend die Luft ein, dann schreckte er hoch und sah sich um wie ein Kaninchen auf Koks. Seine Augen glühten in der Farbe ranziger Wurst. Er stieß ein lautes Grunzen aus, riss sich das Hemd vom Leib und trommelte sich auf die Brust. Dann brüllte er: „Krieg!“

Der Reporter rannte auf die Haustür zu, wild mit den Armen fuchtelnd. „Flugpanzer Vampir! Angriff!“, kreischte er und rannte im Slalom die Straße entlang.

Hühnlein fiel in der Küche auf die Knie. Er brauchte dringend Ruhe, was war nur mit seinem Leben geschehen? Eben war alles noch sterbenslangweilig gewesen und nun herrschte das reinste Chaos! Er warf die Hände in die Luft, sah hoch zum Rauchmelder an der Decke und rief: „Mein Name ist Gottfried Wilhelm Hühnlein und ich habe gesündigt …“

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