Die Wahrheit: Hakapokalypse now
Warum die All Blacks am vorigen Samstag im Halbfinale der Rugby-WM zwischen Neuseeland und England wirklich verloren haben.
Ganz Neuseeland trägt Trauer, und die Welt hofft, dass 4.793.700 Menschen jetzt nichts Unbedachtes tun. Denn das Unmögliche ist passiert: Die legendären All Blacks, das neuseeländische Rugby-Nationalteam, ist im Halbfinale der WM von den Engländern aus dem Wettbewerb gekegelt worden. Damit ist nicht nur der felsenfeste Traum vom dritten Weltmeistertitel in Folge geplatzt, es war auch die erste Niederlage in einem WM-Spiel für die All Blacks seit über zwölf Jahren. Auf einmal nicht mehr unbesiegbar sein, daran wird der kleine Inselstaat von der anderen Seite der Erde lange zu knabbern haben.
Der Herald, die größte Zeitung des Landes, erschien am Tag nach der Niederlage mit einer völlig schwarzen Titelseite. Rugby ist in Neuseeland nicht Nationalsport, es ist mehr als das. Das erste Wort, das ein neuseeländisches Kind sagt, ist nicht „Mama“ oder „Kiwi“ sondern „Rugby“. Die erste Rugby-Regel in Neuseeland lautet: Wir. Gewinnen. Immer. (Und am liebsten gegen Australien!)
Dann geschah am vorigen Samstag das Unvorstellbare: WM-Aus gegen ein Rugby-Entwicklungsland vom Rande Eurasiens. Wie konnte das passieren? „Irgendwas mit dem Haka muss nicht gestimmt haben“, sagt All-Blacks-Kapitän Kieran Read (193 cm; 111 kg) und rückt den Eisbeutel auf seinem kantigen Kopf zurecht. Der Mann mit dem markanten Kinn wirkt ratlos: „Vier Jahre lang haben wir auf diese WM hingearbeitet. Jeden Tag nur Haka, Haka, Haka. Wir haben Haka gegessen, wir haben Haka getrunken und wir haben Haka geschissen.“
„Wir haben mit Haka geschlafen“, ergänzt Joe Moody (188 cm; 122 kg) während er sein zugeschwollenes rechtes Auge betastet. „Bei der Probe am Freitag haben die Abläufe picobello geklappt, jedes Zähnefletschen saß perfekt“, meint Trainer Steve Hansen. „Und wir haben alle Gegner vor der WM genau analysiert: Das ‚Manu Siva Tau‘ der Samoaner, den ‚Cibi‘-Tanz der Fidschi-Inseln-Bewohner, die englische Hymne an ihre Muttergottheit und das atonale Gebrüll der Franzosen.“
Stärkster Zauber
„Das Kapa o Pango hat gegen England immer super funktioniert, es ist der stärkste Zauber, den es gegen die einlullende Macht des ‚God Save the Queen‘ gibt“, grunzt Brodie Retallick (204 cm; 121 kg) und spuckt ein Zahnfragmente aus.
Im Moment analysieren Sportmediziner, Tanzlehrerinnen und Medizinmänner in den neuseeländischen Rugby-Laboren das Video des Unglücks-Haka und notieren sich Schrittfehler und Unregelmäßigkeiten. Auch die Nationalhymne wird untersucht, um festzustellen, ob sich ein Spieler versungen hat. Die Trikots werden ebenfalls durchleuchtet, vielleicht war das All-Black-Schwarz ja durch einen Produktionsfehler einen Tick zu hell.
Für die Spieler indes ist der Fall klar: Das Haka wurde vom Gegner sabotiert. „Ihr Kapitän hat mir zugezwinkert“, jammert Joe Moody, „da konnte ich mich nicht mehr auf das Grimassenschneiden konzentrieren. Und Millionen Menschen an den Bildschirmen waren Zeugen, wie die Engländer sich in V-Formation vor den Neuseeländern aufgestellt hatten, statt in einer geraden Linie, wie es sich aus Respekt vor der uralten Zaubermacht geziemt.
„Ich habe mich total eingekesselt gefühlt“, weint Nepo Laulala (184 cm, 122 kg). „Das haben die doch mit Absicht gemacht. Und immer diese ironischen Blicke.“ – „Und für mich sah es nicht wie ein V, sondern sogar fast schon wie ein U aus“, meint ein anderer Spieler, während er versucht, sein abgerissenes rechtes Ohr wieder am Kopf festzumachen. Laulala nickt knacksend: „Gut möglich, dass es sich um ein U gehandelt hat. Diese Verbrecher!“
Maßnahmen ergreifen
„Der Weltverband muss Maßnahmen ergreifen, damit so etwas nicht mehr vorkommt“, regt sich der Trainer auf. „Es macht unseren Sport kaputt“, bekräftigt Kieran Read und haut mit seinem Gipsarm auf den Tisch.
Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Gegner das Haka mit unfairen Mitteln zu zerstören versucht. Noch allzu gut ist der „Franzosenpfeil“ aus dem WM-Finale 2011 in Erinnerung als „Les Bleus“ sich dem Haka in Pfeilformation entgegenstellten. Verloren haben sie trotzdem und bekamen zudem vom Verband eine saftige Geldstrafe von 2.500 Euro aufgebrummt.
Den Engländern könnte Ähnliches passieren. Vor allem ihr Spieler Joe Marler (184 cm, 120 kg) riskiert eine Geldbuße. Der bärtige Hüne mit dem markanten Iro, der für die London Harlequins spielt, war nämlich einen Schritt zu weit nach vorn getreten, sodass seine Fußspitze die neuseeländische Spielhälfte übertrat. „Spätestens da hätte das Spiel abgebrochen werden müssen“, knurrt Read.
Joe Marler verteidigte sich damit, er habe „nicht verstanden, was wir machen sollen. Hey, ich bin Rugby-Spieler und kein Formationstänzer.“ Die All Blacks aber nehmen mit Blick auf die nächste WM 2023 in Frankreich für alle Fälle schon mal Cancan-Unterricht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel