Die Wahrheit: Der zweite Bahnhof
Das Motiv eines Zweitbahnhofs tritt vorwiegend in Träumen von Menschen auf, die täglich mit der Eisenbahn zur Schule oder Arbeit und zurück fahren …
E in in der älteren Eisenbahnliteratur häufig vorkommendes Motiv ist der „Zweite Bahnhof“. Darunter versteht man ein mit einer regulären Bahnstation zwar namensgleiches, äußerlich jedoch stark von dieser abweichendes Gebäude an einer anderen, oft unsinnigen Stelle in der Nähe des Originals. Dieses Motiv tritt vorwiegend in Träumen von Menschen auf, die über lange Zeit hinweg täglich mit der Eisenbahn zur Schule oder Arbeit und zurück fahren. Seltener sind Berichte über im Wachleben gemachte Erfahrungen mit diesem Phänomen. Mir selbst ist es in jungen Jahren einmal begegnet.
Als ich an einem frühen Nachmittag von der Schule heimfuhr, bog der Nahverkehrszug kurz vor meinem Reiseziel überraschend nach links ab, anstatt geradeaus weiterzufahren. Er hielt dann etwa zweihundert Meter von der eigentlichen Station entfernt an einer gänzlich anders aussehenden, die trotzdem den gewohnten Namen trug. Entsprechend verunsichert stieg ich aus.
Weil aber die Gegend, abgesehen von der unmittelbaren Umgebung des Bahnhofs, größtenteils vertraut wirkte, hatte ich keine Schwierigkeiten mit der Orientierung. Bald erreichte ich die Straße, in der ich mit meinen Eltern wohnte. Unser Haus war allerdings nicht mehr das altbekannte. In Bauweise und Größe unterschied es sich gewaltig von dem vormaligen. Auch meine Eltern waren andere, mir völlig fremde Leute. Nichtsdestoweniger sahen sie in mir ganz selbstverständlich ihren Sohn.
Das brachte mich auf den Gedanken, ich selbst könne mich ebenfalls äußerlich verändert haben. Im Garderobenspiegel fand ich dafür aber keinen Beweis. Erstaunlicherweise wusste ich genau, wo in der unbekannten Wohnung mein Zimmer war. Als ich es betrat, musste ich zur Kenntnis nehmen, dass ihm jede Ähnlichkeit mit demjenigen fehlte, das ich am Morgen verlassen hatte. Der einzige Gegenstand, den ich kannte, war mein altes Radio. Ich erlitt einen Verzweiflungsanfall und wurde nach Verabreichung eines Beruhigungsmittels ins Bett gesteckt.
Am nächsten Morgen erwachte ich wieder in der richtigen Umgebung. So erleichtert ich war, hatte das Erlebnis vom Vortag mein Vertrauen in die Welt doch nicht eben gestärkt. Dass ich alles nur geträumt hätte, glaubte und glaube ich bis heute nicht. Wahrscheinlich war durch den Schlaf die Störung beseitigt und die alte Realitätsillusion wiederhergestellt worden. Letztere blieb danach in ihren Grundzügen zwar konstant, doch wurde mit der Zeit immer deutlicher offenbar, dass sie hoffnungslos zerrüttet war.
Inzwischen sind überall in der noch bewohnten Welt die Naturforscher mit der Erklärung der Eisenbahn beschäftigt. Ihre Arbeit befindet sich erst im Anfangsstadium, sehr viel Geduld ist erforderlich. Parallel dazu versucht die Wissenschaft auch, solche Phänomene wie Telefonapparate, Plattenspieler oder Radiogeräte zu enträtseln.
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