Die Wahrheit: Grüne Soße mit Reggae
Deutsche Neuaufnahmen im bundesstaatlichen Verzeichnis der Immateriellen Kulturgüter. Ein Drama aus dem Kanzleramt.
Ein leicht überhitztes, gut gefülltes und ausgiebig bemurmeltes Tagungszimmer mit Blick auf den Reichstag. Vertreterinnen und Vertreter aller Bundesländer befinden sich bereits in regem Austausch miteinander. An der Stirnseite erhebt sich die Vorsitzende, Frau Dr. Margarete Schopfgreif, und schlägt mit ihrem Teelöffel gegen das Glas.
Vorsitzende: Ich erkläre hiermit die erste Sitzung zur Findung würdiger Einträge in das Verzeichnis der Immateriellen Kulturgüter des bundesdeutschen Teils der Menschheit für 2019 für eröffnet!
Bayern: Guter Vorschlag! Ich denke, darauf können wir uns einigen!
Vorsitzende: Wie? Worauf?
Hessen: Unser bayerischer Kollege meint das Aufstehen einer am Tisch sich befindlichen Person, gefolgt von einem rhythmischen Anschlagen eines Glases mithilfe eines wie zufällig herumliegenden Löffels, es darf auch eine Gabel sein, zwecks allgemeiner Anzeige einer Wortergreifung. Sehr schön.
Vorsitzende (geschmeichelt): Nun gut, wenn Sie meinen. Wir bräuchten für dieses immaterielle Kulturerbe freilich noch einen Namen …
Bayern: Wie wäre es mit „Aufstehen einer am Tisch sich befindlichen Person, gefolgt von einem rhythmischen Anschlagen eines Glases mithilfe eines wie zufällig herumliegenden Löffels, es darf auch eine Gabel sein, zwecks allgemeiner Anzeige einer Wortergreifung“?
Hessen: Sehr schön! Aus hessischer Sicht wäre übrigens die Grüne …
Vorsitzende: Weitere Vorschläge? Und bitte bedenken Sie, dass es uns um Riten und Gebräuche geht, die in Vergessenheit zu geraten drohen, wenn wir sie nicht unter unseren Schutz stellen. Denken Sie nur an den Reggae, der inzwischen sogar zum „globalen“ Weltkulturerbe ernannt worden ist. Weil eben kein Mensch mehr Reggae hört!
Sachsen-Anhalt: Also, ich habe mir neulich dieses Album von Sting und Shaggy gekauft.
Vorsitzende (lauernd): Und auch gehört?
Sachsen-Anhalt: Na ja, um ehrlich zu sein …
Vorsitzende: Eben. Könnten wir denn auch aus deutscher Sicht …
Brandenburg: Optische Fahrtrichtungswechselanzeige!
Nordrhein-Westfalen: Wat für ’n Ding?
Brandenburg: Sehen Sie! Macht kein Mensch mehr. Wir vergessen sogar schon den amtlichen Namen. Oder wann haben Sie zuletzt erlebt, dass ein Wagen vor ihnen geblinkt hat, bevor er abgebogen ist? Wann haben Sie selbst zuletzt geblinkt?
Nordrhein-Westfalen (nachdenklich): Also, ich bin zuletzt vor zwei Wochen an diesen komischen Schalter gekommen, eher zufällig, und dann war da so ein Ticken zu hören, ich wusste auch nicht …
Hessen: Sehr schön! Angenommen, oder? Die Grüne …
Vorsitzende: Meinetwegen. Weitere Vorschläge?
Baden-Württemberg: Ja, hier! Die schwäbisch-alemannische Fastnacht! Altersgenossenfeste in Schwäbisch Gmünd! Das Peter-und-Paul-Fest in Bretten! Amateurmusik? Das Fest zur …
Vorsitzende (streng): Ist alles schon eingetragen.
Baden-Württemberg: Isches? Und was ist mit dem ehrsamen Narrengericht zu Grosselfingen?
Vorsitzende: Auch das. Aber gibt es da nicht in Tübingen gerade einen Narren, der sich zum Richter aufschwingt?
Baden-Württemberg (eingeschüchtert): Schon. Aber ist der ehrsam? Dann doch lieber die Zeppelinpflege zu Friedrichshafen.
Hessen: Sehr schön! Die Grüne Soße übrigens …
Rheinland-Pfalz (rollt mit den Augen): Die ist ziemlich materiell, leider.
Hessen: Und was ist mit Gangsta-Rap?
Berlin: Also, wir hören das noch! Und produzieren es auch selbst! Ich würde gerne den Karneval der Kulturen vorschlagen. Und die Hipster-Kultur, also Kaffee für sechs Euro in ranzigen Läden, die „Ranziger Laden mit Kaffee für sechs Euro“ heißen.
Vorsitzende (schreibt mit): „… für sechs Euro“. Sehr gut. Angenommen.
Hamburg (eifrig): Krawalle! Also die Kulturtechnik, Pflastersteine aus der Straße zu brechen und damit eine politische Meinung zu kommunizieren. Und natürlich die Prostitution auf der Reeperbahn, bei der …
Thüringen: Na ja, dann können wir gleich die Heterosexualität unter Schutz stellen.
Sachsen: Genau! Überall Schwule, wohin man schaut. Mein Antrag: „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!“
Vorsitzende: Das klammern wir mal aus, das könnte demnächst zum offiziellen Motto des Bundeslandes Sachsen werden. Weitere Ideen?
Mecklenburg-Vorpommern: Der ÖPNV, vor allem bei uns auf dem Land. Die letzten Bushaltestellen stehen bereits unter Denkmalschutz. Generell die Infrastruktur.
Baden-Württemberg: Und was ist mit der gemeinschaftlichen Anstrengung von Teilnehmern am Individualverkehr, unsere Städte mit Dieseldunstglocken aus toxischen Abgasen …
Hessen: Sehr schön! Was die Grüne Soße betrifft, so unterliegt ihre Zubereitung sehr strengen …
Bremen (auftrumpfend): Liedermacher! Niemand nimmt sich mehr eine Klampfe, um in trauter Runde politische Bänkelgesänge vorzutragen!
Niedersachsen: Die alte Tradition des Drachensteigenlassens!
Saarland (nachdenklich): Maggi. Das habituelle Nachwürzen aller möglichen Speisen lässt ebenfalls stark nach.
Vorsitzende (heftig nickend): Meine Damen und Herren, hier sind wir auf dem richtigen Weg. Generell könnten wir der Unesco aus deutscher Sicht das Dichten, das Denken sowie die Pünktlichkeit vorschlagen. Alles kulturelle Praktiken, die langsam in Vergessenheit geraten.
Hamburg (skeptisch): Aber wie schützen wir diese Dinge denn?
Vorsitzende: Wir dichten uns etwas zusammen, denken uns eine schlaue Begründung aus und reichen das alles pünktlich ein. Fertig! Das gilt auch für Sitzungen wie diese hier, bei denen wir alle in einem leicht überhitzten und gut gefüllten Tagungszimmer im Kanzleramt zusammenkommen, um in regem Austausch …
(Allgemeine Zustimmung, munteres Klatschen, ausgiebiges Gemurmel.)
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