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Die WahrheitWinterbett im Nirgendwo

Die unwirtlichsten Unterkünfte der Welt (2). Heute: Ein gar geharnischter Beinahemord auf dem Weg nach Nicaragua.

Sandinisten 2018 bei einem „Friedensmarsch“ – 1990 wollte man als junger Mensch bei der Revolution in Nicaragua aber so was von dabei sein Foto: AP

Das Völkchen der Journalisten und Schriftsteller gilt als Weltmeister im Reisen. Dauernd sind Autoren zu Lesungen und Buchmessen unterwegs oder müssen sich auf ihren Expeditionen durch aller Damen und Herren Länder eine Unterkunft suchen. Dabei haben sie einige der abseitigsten Absteigen der Welt gesehen und sind dort untergekommen, wo andere keinen Fuß hineinsetzen würden. In unserer neuen Wahrheit-Sommerserie dokumentieren wir das ganze Ausmaß des unbehausten Schreckens.

Wir schreiben das Jahr 1984: Die Sandinisten in Nicaragua sehen sich massiven Angriffen der Contras und der USA ausgesetzt. Daniel Ortega läuft noch unter dem Label „Hoffnungsträger“. Mein Bruder entdeckt in der taz eine kleine Anzeige: Für einen solidarischen Einsatz in Nicaragua würden noch Freiwillige gesucht. Nachdem geklärt ist, dass es nicht um Rumballern geht, werden wir Mitglieder einer Brigade, die von Januar bis März 1985 in San Martín im Osten Nicaraguas, mitten im Regenwald, Holzhäuser bauen soll.

Als die Reiseplanungen beginnen, tut sich ein Problem auf: Den mit Abstand günstigsten Flug nach Managua bietet Air Cubana an – Abflug von Berlin-Schönefeld. Eigentlich extrem praktisch für uns Westberliner. Und der Flughafen ist auch fertig. Doch er liegt in der DDR. Und ich habe seit einigen Jahren Einreiseverbot in den Arbeiter- und Bauernstaat. Meine Solidarität mit dem sozialistischen Nicaragua kollidiert also mit dem Grenzregime der sozialistischen DDR. Aber noch ist ja Zeit.

Im Oktober 1984 schreibe ich einen devoten Brief an die Ständige Vertretung der DDR mit der Frage, ob mein Hilfseinsatz für die nicaraguanischen Genossen an der fünfminütigen Transit-Busfahrt von Rudow nach Schönefeld scheitern solle, die Anfang Januar 1985 geplant sei. Und, o Wunder: Ich bekomme sogar Antwort. Das ist selten.

Auf meine An- und Nachfragen hörte ich vorher stets nur, es sei international nicht üblich, über Einreisesperren Auskunft zu erteilen. Aber diesmal teilt die Ständige Vertretung mir schriftlich mit, dass ich am 9. Januar 1985 den Transitweg nach Schönefeld benutzen könne. Datum des Schreibens: 4. Februar 1985. Ich finde es also nach der Rückkehr aus Nicaragua vor und bin entsprechend begeistert.

Nachdem ich bis Ende November nichts gehört hatte, bin ich also gezwungen, umzudisponieren. Die Alternative heißt Iberia und kostet mich etwa 2.000 Mark, was für einen Studenten kein Pappenstiel ist. Der Transatlantikflug nach Managua, zur Wiedervereinigung mit dem Bruder und dem Rest der Brigade, startet um sieben Uhr morgens in Madrid, Zubringerflug am Vorabend ab Amsterdam. Eine Nacht im Flughafen also – es gibt Schlimmeres. Ich habe schon auf der Bank eines nordfinnischen Wartehäuschens gepennt, in einem Ort, der nur aus einer Tankstelle und der Bushaltestelle besteht, und bin am nächsten Morgen mit Raureif bedeckt aufgewacht.

Leider habe ich die Rechnung ohne das Grenzregime des Madrider Flughafens gemacht: Als ich es mir gerade auf einer Bank gemütlich mache, kommt das Wachpersonal und erklärt mir, der Airport sei von 23 Uhr bis fünf Uhr morgens geschlossen. Obwohl ich praktisch kein Spanisch kann, verstehe ich, dass ich da raus muss. Und nun? Ein Hotel ist im Budget nicht vorgesehen. Der Flughafen Barajas liegt weit außerhalb – ein Transfer in die Stadt ist illusorisch. Ich muss ja gegen fünf Uhr dreißig schon wieder einchecken. Übrigens ist es im Januar auf der Hochebene rund um Madrid ganz schön kalt. Jedenfalls draußen.

Ich habe schon auf der Bank eines nordfinnischen Wartehäuschens gepennt und bin mit Raureif bedeckt aufgewacht …

Ein Taxifahrer spricht mich an: Ob ich Hilfe brauche. Radebrechend erkläre ich ihm meine Lage. Er gibt mir zu verstehen, dass er mir helfen könne. Für zwanzig Dollar. Mit der Naivität, die man mit Mitte zwanzig eben hat, steige ich ein. Wir fahren lange durch die spanische Winternacht. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind. Wir erreichen eine Privatwohnung. Er führt mich in eine winzige Abstellkammer mit einer Liege. Ich klaube mein jämmerliches Spanisch zusammen, fülle die Lücken mit Italienisch auf und mache ihm klar, dass ich in wenigen Stunden, um fünf Uhr dreißig, wieder am Flughafen sein muss. Er hat mich möglicherweise verstanden und verschwindet aus der Wohnung.

Jetzt bin ich definitiv komplett verloren. Handys gibt es noch nicht, einen Wecker habe ich ebenfalls nicht dabei. Ich bin irgendwo im Nirgendwo. Und niemand weiß, wo ich bin. Wenn ich heute Nacht ausgeraubt und ermordet werde, ist es das perfekte Verbrechen. Und auch wenn nicht – wie soll ich meinen teuren Flieger nach Nicaragua bekommen, wo doch meine Leute warten?

In einer Mischung aus Müdigkeit, Gottvertrauen und Schicksalsergebenheit lasse ich mich auf das Klappbett fallen. Kurz nachdem ich eingeschlafen bin, rüttelt mich jemand an der Schulter. Es ist der Taxifahrer, und es ist fünf Uhr. Ich bekomme sogar einen Kaffee. Und er liefert mich pünktlich am Flughafen ab. Die zwanzig Dollar gebe ich dem spanischen Engel ziemlich beiläufig. Denn dass das alles ein reines Wunder war, wird mir erst später so richtig klar.

Diese Übernachtung im kastilischen Niemandsland war die mit Abstand abenteuerlichste der Reise – trotz bewaffneter Nachtwachen in San Martín, drohender Contra-Angriffe und handtellergroßer Spinnen, deren winzige Brut sich durch die Moskitonetze nicht abhalten ließ. Und: San Martín würde ich notfalls wiederfinden – den Ort meiner Übernachtung in Spanien aber niemals.

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