Die Wahrheit: Süffisante Spitzhörnchen

Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (55): Die nachtaktiven Kletterer neigen in nicht geringem Maße zum Alkohol.

Ein Spitzhörnchen hockt auf einem Stein

Sehr dekorativ setzt sich das durstige Federschwanz-Spitzhörnchen in Trinkpose Foto: imago/Christian Zappel/imageBROKER

Die Süddeutsche Zeitung nennt sie respektlos „Saufhörnchen“, denn die nachtaktiven Kletterer, die in den Wäldern Südostasiens leben, können Alkohol weitaus besser vertragen als der Mensch, wie die SZ vom Bayreuther Tierphysiologen Frank Wiens erfuhr. Ihr wichtiger Nahrungsbestandteil ist der zu Alkohol fermentierte Blütennektar der Bertram-Palme, der 3,8 Prozent Alkohol enthält. Sie müssten eigentlich ständig betrunken sein, aber anscheinend ist ihr Stoffwechsel sehr viel „effektiver“ als unserer.

Über die Fortpflanzung dieser Tiere ist wenig bekannt. Die Tragzeit wird auf 45 bis 55 Tage und die Wurfgröße auf eins bis vier geschätzt, heißt es auf Wikipedia, das auch über den Gefährdungsgrad dieser Spitzhörnchen keine genauen Angaben machen kann: „Das relativ große Verbreitungsgebiet“ spricht aber wohl dafür, „dass sie im Vergleich zu anderen Arten weniger bedroht ist.“

Der Alkohol scheint ihnen also gut zu bekommen. Ihre Bayreuther Erforscher besitzen laut Spiegel Videoaufnahmen, die zeigen, „dass jedes Tier mehr als zwei Stunden pro Nacht den alkoholhaltigen Nektar trinkt. Das war mehr Zeit, als für irgendeine andere Nahrung aufgewendet wurde.“ Dies haben ihnen Haarproben von den Spitzhörnchen noch einmal bestätigt.

Positive Effekte des Alkohols

Am Schluss ihres Beitrags schießen die Forscher jedoch über das Ziel hinaus: Sie vermuten als brave Darwinisten, dass der Alkohol positive psychologische Effekte hat, denn der „Alkoholkonsum bei Spitzhörnchen ist ein Ergebnis der natürlichen Selektion. Deshalb sollte für die Tiere unter dem Strich ein Nutzen stehen.“

Überdies ziehen sie daraus den kühnen Schluss, dass die Menschen schon lange vor dem Bierbrauen – vor circa 9.000 Jahren – Alkohol konsumiert haben: Ihre „Untersuchung zeige, dass ein regelmäßiger hoher Alkoholkonsum schon sehr früh in der Evolution der Primaten vorkam“. Eine „kurze Geschichte des Lasters“, wie das Schweizer Magazin Republik das nennt. Erstaunlich, was man aus dem Alkoholkonsum eines so kleinen eichhörnchenähnlichen Säugetiers (von höchstens 14 Zentimetern ohne Schwanz und 33 Zentimetern mit Schwanz) alles rausholen kann, wenn man nur darwinistisch genug besonnt ist.

Die Eltern kümmern sich kaum um den nackt, blind und taub geborenen Nachwuchs

Auf biologie.de bleibt man in Bezug auf die Federschwanz-Spitzhörnchen konkreter: „Sie sind Baumbewohner, die ausgezeichnet klettern und springen können“, heißt es da. „Der auffällige Schwanz dient dabei der Balance, möglicherweise auch dem Tastsinn. Tagsüber ruhen sie zusammengerollt in selbstgebauten, aus Blättern und Zweigen errichteten Nestern. Ihre Nahrung besteht aus Insekten, kleinen Wirbeltieren wie etwa Geckos und Früchten.“ Die Seite tierdoku.de präzisiert: „Das ­Federschwanz-Spitzhörnchen zählt zu den Allesfressern und verzehrt unter anderem Bananen, Trauben, Grillen und Heuschrecken.“

Das Forum wissenschaft.de spricht von „trinkfest“; Die Zeit betitelte ihren Artikel leicht beschwipst mit „Prost Spitzhörnchen“; während der Stern sich für die Überschrift „Wenn Spitzhörnchen Palmbier saufen“ entschied und die Wiener Zeitung für „Kampftrinker im Regenwald“. Das geht immer so weiter.

Erbgut eines Gleiters

Den Blogger Jochen Ebmeier inspirierte die Bayreuther Forschung gar zu einer Geschichte über „Den Anteil des Schnapses an der Menschwerdung“. Die Neue Zürcher Zeitung drückte sich nüchterner aus: „Anhand neuer genetischer Studien schließen die Forscher, dass die nächsten Verwandten der Primaten die Riesengleiter sind. Dies deute darauf hin, dass sich etwa das Erbgut des Urahnen der Primaten ohne das sequenzierte Erbgut eines Gleiters nicht rekonstruieren lasse. Zudem vermuten sie, dass bei den Spitzhörnchen das Federschwanz-Spitzhörnchen (Ptilocercus lowii) eine Sonderstellung hat und deshalb besonderen Schutz genießen sollte.“ Es gibt insgesamt 18 Spitzhörnchen-Arten.

Als die Bayreuther Forscher die possierlichen Federschwänze in den südostasiatischen Wäldern aufspürten und sie auf den blühenden Bertram-Palmen abpflückten, passierte laut spektrum.de Folgendes: „Deren Befruchtungsquote sank auf die Hälfte. Die pelzigen Zechgenossen dienten dem Grün als Pollentransporteure.“

Es handelte sich also bei der Palme und den Spitzhörnchen um eine womöglich gut eingespielte Ko-Evolution – Pollen für Palmwein –, die bereits seit 55 Millionen Jahre existiert, wie die Bayreuther vermuten. Um an diesem niedlichen Forschungsobjekt dranzubleiben, haben sie sich schon „neue Fragen“ überlegt: „Zeigen die alkoholisierten Winzlinge ähnlich verringerte Stress- und Angstlevel wie ihre zweibeinigen Verwandten nach dem dritten Glas?“

Wobei sie anscheinend davon ausgehen: „Was beim Menschen von Vorteil sein kann, könnte im Urwald schnell zum Nachteil werden“ – also dass die Kleinsäuger ihren Fressfeinden entspannt entgegensehen, statt reaktionsschnell zu fliehen. Eigentlich müsste das im Widerspruch zu ihrer gegenüber der SZ geäußerten Hypothese stehen, wonach der Stoffwechsel der Hörnchen vermutlich sehr viel „effektiver“ als unserer ist.

Falscher Name durch Entdecker

Diese sind im Übrigen nicht mit unseren „Hörnchen“ verwandt. Den falschen Namen verdanken sie dem Entdecker William Ellis, der 1780 als Arzt an der dritten Fahrt von James Cook in die Südsee teilnahm. In ihrer Heimat wurden und werden sie Tupaias genannt. Am besten untersucht sind dort die zwei Arten „Tupaia glis“ und „Tupaia belangeri“. Zunächst wurden sie (von Ernst Haeckel) zu den „Insektenfressern“ gezählt und danach als primitivste Vertreter der Primaten begriffen.

Aber dann untersuchte der Zoologe R. D. Martin im Rahmen seiner Doktorarbeit bei Konrad Lorenz im Max-Planck-Institut in Seewiesen ihr Verhalten. Dazu züchtete er sie in Gefangenschaft. Das Göttinger Leibniz-Zentrum für Primatenforschung, genauer gesagt das „Cognitive Neuro­science ­Laboratory“, das ebenfalls „Tupaia belangeri“ hält, fasste 1996 dessen Forschungsergebnisse so zusammen: „Zwar bereiten die Mütter vor der Geburt der Jungen ein Nest vor, doch kümmern sie sich nach der Geburt kaum mehr um sie. Über ungefähr einen Monat suchen sie nur etwa alle zwei Tage ihren Nachwuchs für etwa 5 bis 10 Minuten zum Säugen auf … Auch sonst weicht das Verhalten der Tupaia-Eltern gegenüber den Jungtieren stark von dem der Primaten ab. Die Väter kümmern sich überhaupt nicht um die Jungen und unterscheiden sich damit nicht viel von den Müttern, welche den nackt, blind und taub geborenen Nachwuchs weder säubern, noch wärmen, noch verteidigen.“

Das klingt wie die typische Kindesvernachlässigung von Alkoholikereltern. Man fand aber einen ausgeprägt zoologischen Kompromiss: Die „Saufhörnchen“ werden nun „als eigene Ordnung ‚Scandentia‘ gleichberechtigt neben Insektivoren und Primaten geführt“.

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