Die Wahrheit: Die Welt der Fliese
Soll man mit einer Vintage-Fliese über die deutsche Geschichte nach 1945 diskutieren? Eine Frage, die sich aufdrängt beim Besuch von Fliesenstudios.
I t’s a man’s world. Außer im Fliesenfachgeschäft. Im Fliesenfachgeschäft ist der Mann eine armselige, unterdrückte, ignorierte, rechtlose Kreatur. Also quasi eine Frau. Zumindest, wenn der Mann an der Seite seiner Frau ein solches Etablissement betritt und dort auf eine geschulte weibliche Fachkraft trifft, die genau weiß, wie sie die teuerste Fliese im Laden an eine nackte Badezimmerwand gequatscht bekommt: Mann ignorieren, Frau umgarnen.
Frau Gottwalth weiß Dinge über Fliesen zu erzählen, das wissen Fliesen womöglich nicht einmal über sich selbst. Diese Vintage-Fliesen mit kunstvoll gebrochener Kante zum Beispiel – sauteure kaputte Fliesen, die aussehen, als hätte jemand sich darüber erbrochen und vergessen, das anschließend wegzuwischen – genau die geben einem Badezimmer eine ganz besondere Aura. „Wände mit diesen Fliesen erzählen eine Geschichte“, sagt Frau Gottwalth.
Mein Badezimmer wird sprechen? Womöglich während ich darin auf dem Thron hocke und wirklich was anderes zu tun habe, als mit meiner Vintage-Fliese über die deutsche Geschichte nach 1945 zu diskutieren? Bin ich der Höcke, habe ich das nötig, so ein AfD-Gelaber, während ich kacke?
Während ich noch nach den richtigen Worten suche, um diese Vintage-Fliese von mir fernzuhalten, macht Frau Gottwalth meine Frau bereits auf eine andere Fliese aufmerksam. Letztere sieht aus, als hätte eine Kita die Resultate eines Töpfernachmittags ausgestellt: schräge Ränder und wellige Oberflächen, über die alberne Fische dümpeln. Reden die womöglich auch mit mir? Schreit mich bald eine Kinderhorde beim Duschen an? Das nicht, sagt Frau Gottwalth. Aber das sei mal „was anderes“. Das stimmt, Fliesen sind das definitiv nicht. Aber wenn mir der Sinn nach Unsinn steht, wäre meine erste Wahl eine Filmnacht mit YouTube-Videos von CSU-Parteitagen. Wo bleibt da die Sinngebung?
Ich versuche, eben das Frau Gottwalth in einem konzisen Vortrag zu erläutern. Ihre Aufmerksamkeit ist aber bereits gefangen von der Fliesenlinie „Concrete Town“ in Betonoptik, die ein echt urbanes Flair in unser Bad zaubern könnte. Ich bemühe mich, Frau Gottwalth darüber zu informieren, dass unsere Wände ja schon jetzt eine wenig einladende Betonoptik haben und der tiefere Sinn unseres Besuchs in ihrem Fliesenfachgeschäft gerade darin bestünde, dass wir durch Anbringen von Fliesen dem Raum eine konkrete Badezimmeratmo verleihen möchten.
Doch vergebens, weil Frau Gottwalth vollauf damit beschäftigt ist, meiner Frau die Vorzüge einer glänzend weißen Fliese in Bahnhofsklo-Ästhetik darzulegen. Sehr pflegeleicht, das Modell, sie würde das Bad damit von oben bis unten zukleben, dann seien wir durch mit dem Thema.
Ich rufe, so laut ich kann: „Die nehmen wir, dann hat meine Frau auch keine große Mühe mit dem Badputzen.“ Aber in einer wirklichen Frauenwelt kann Mann nicht einmal als Pöbler auf Wahrnehmung hoffen.
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