piwik no script img

Die WahrheitHochbrisante Verwicklungen

Kolumne
von Eugen Egner

Zwei seltsame Gestalten in langen schwarzen Umhängen verlassen ein Haus, das schon vor Jahren abgerissen wurde. Ich nehme die Verfolgung auf …

S eit Wochen beobachtete ich ein Gründerzeit-Mietshaus, das vor vielen Jahren im Zuge einer Straßenbaumaßnahme abgerissen worden war. Als Kind hatte ich es einige Male gesehen, bevor es verschwand. Ich näherte mich ihm allnächtlich von der Rückseite her und verharrte geduldig in meinem Pkw.

In der Nacht vom 16. auf den 17. September glomm in einem der Fenster des Hauses plötzlich ein schwaches, leicht pulsierendes Licht. Ein paar Sekunden später sah ich, wie etwas Großes mit den Umrissen einer Fledermaus oder eines Vogels auf dem Dach landete und mit dessen Silhouette verschmolz. Gespannt wartete ich darauf, dass weitere solcher Flugwesen folgen würden, doch es kamen keine. Stattdessen verließen zwei Gestalten durch den Hinterausgang das Haus. Ich weiß nur noch, dass sie so etwas wie lange schwarze Umhänge trugen.

Wegen der Dunkelheit waren ihre Gesichter nicht zu sehen. Sie gingen eilig zu einer Reihe alter Mehrfamilienhäuser, die seinerzeit nicht abgerissen worden waren. Ich stieg aus, schloss den Wagen ab und folgte vorsichtig. Obwohl ich mich lautlos bewegte, immer im Schatten blieb und Abstand wahrte, bemerkten mich die Verfolgten. Sie drehten sich zu mir um, und im selben Augenblick spürte ich, wie sich alles veränderte.

Als Sechsjähriger war ich bei strahlendem Sonnenschein mit meinen Eltern an derselben Stelle unterwegs, allerdings in entgegengesetzter Richtung. Das Bewusstsein, mit dem ich all dies wahrnahm, war unverändert das meines erwachsenen Ich. Entsetzt über mein atavistisches Äußeres, insbesondere den grässlichen Haarschnitt und die kurze Hose, war ich zugleich doch bezaubert, weil die Umgebung ebenfalls ihr damaliges Aussehen hatte. Die Häuser wiesen keine Anzeichen des Verfalls mehr auf, und meine Eltern waren halb so alt ich.

Auf diese Beobachtungen konzentriert, achtete ich nicht auf den großen gelben Briefkasten, der rechts von mir an einer Hauswand hing, bis ich einen lauten Knall hörte und einen Schlag gegen meine Stirn spürte. Dann wurde es dunkel.

Als der, der ich vor der zeitlichen Rückversetzung gewesen war, kam ich morgens in meinem Bett wieder zu mir. Nach dem Aufstehen sah ich im Spiegel, dass meine Stirn keine sichtbaren Spuren eines Anpralls trug, doch hatte ich mich offenbar länger als gewöhnlich nicht rasiert. Verunsichert überprüfte ich das aktuelle Datum und kam zu dem Schluss: Mir fehlten zwei Tage.

Beim Frühstück hörte ich die Rundfunknachrichten. Es wurde von einem älteren Mann mit Amnesie berichtet, den die Polizei in der Nacht, als ich mein verstörendes Erlebnis gehabt hatte, nicht weit von meinem Wohnort aufgegriffen hatte. Da er keine Personalien bei sich gehabt habe, sei er in Gewahrsam genommen worden. Doch noch bevor seine Identität festgestellt werden konnte, habe er sich plötzlich „in Luft aufgelöst“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!