Die Wahrheit: Verzahnte Weisheit
Man kommt sich manchmal dumm vor, findet man eine Nachricht bizarr, zugleich vermutend, die Logik des Kapitalismus stecke dahinter.
A m Nikolaustag starb Tante Irma. Sie wurde 96. Die Todesursache klang antiquiert: „Altersschwäche“. Doch ihr Denkvermögen war rege und wach geblieben, bis sie eines Tages beschloss, nichts mehr zu sich zu nehmen, nur einige Tropfen Wasser auf die Lippen ließ sie sich gefallen. Sie empfing keinen Besuch mehr. Sie war bereit.
Wenige Wochen zuvor fuhr ich zu dem Seniorenheim, in dem sie wohnte. Aus jener Plauderei speicherte ich diese Sätze von ihr: „Ja, es gibt mich noch. Aber verdammt, mit sämtlichen Weisheitszähnen zu sterben und trotzdem so dumm zu sein wie mit zwanzig, ist schon seltsam.“
Nach wie vor sitzen meine Weisheitszähne im Gebiss. Nicht nur das einte meine Tante und mich. Ich übernahm auch ihre Selbsterkenntnis: dumm wie mit zwanzig, meinen analytischen Fähigkeiten zum Trotz.
Man kommt sich ja manchmal dumm vor, findet man eine Nachricht bizarr, zugleich vermutend, die Logik des globalen Kapitalismus (oder wie das jetzt heißt) steckt irgendwie und letztlich hinter diesem „Wahnsystem Realität“. Dann liest man beispielsweise, dass man für seinen Staubsauger aus 1.120 verschiedenen Beuteln und 42.000 verschiedenen Geräten den passenden Beutel heraussuchen muss. Die einen nennen es Vielfalt, die anderen Irrsinn.
Oder man sieht eine Seite im Netz, wo der aktuelle Preis für einen Liter Kraftstoff stündlich abzurufen ist. Es geht natürlich um Cents, die man spart oder auch nicht, sofern man soundso viel Meter weiterfährt. Oder man liest, dass wir hier in Deutschland jährlich etwa 45 Millionen männliche Eintagsküken zerschreddern oder vergasen. Seltsam mutet ebenfalls an, dass in diesem tüchtig zubetonierten Land zurzeit jedes zehnte verkaufte Auto ein SUV oder ein Geländewagen ist.
Außerdem wunderte ich mich, als von dem Embryo die Rede war, der 1992 in Knoxville, Tennessee, eingefroren worden und über 24 Jahre auf Eis gelegt war und nun ausgetragen wurde. Das Baby ist aus dem ältesten gefrorenen Embryo entstanden, der „bisherige Rekord“ lag bei 20 Jahren Zeitspanne. „Ich wollte bloß ein Baby haben. Mir ist es egal, ob das ein Weltrekord ist oder nicht“, zitiert CNN die Mutter.
Endlich linderte ein Artikel des Kollegen Heiko Ernst meine Zweifel am Ungenügen der eigenen Klug- oder Weisheit, ob gezackt, gezähnt oder zahnlos. Er stellte das Akronym IOED vor, die Illusion of Explanatory Depth, das die Psychologen Rozenblit und Keil mit ihren Experimenten bereits im Jahre 2002 beschrieben: Die Illusion, etwas genau erklären zu können. „Die meisten Menschen glauben, dass sie die Welt detaillierter, kohärenter und präziser verstehen, als es tatsächlich der Fall ist.“
Sie fragten ihre Versuchspersonen etwa: „Wie gut verstehen Sie die Funktionsweise eines Kühlschranks?“ In Phase zwei sollten sie es verschriftlichen. Fast alle scheiterten; ihre Versuche waren „in der Regel mangelhaft bis ungenügend“. Das mag genügen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt