Die Wahrheit: Kunstpatienten, ein Stillleben
Im Behandlungsraum meines Arztes hängt eine riesige Fotografie. Der Arzt kommt nicht. Zeit, das Werk in Ruhe auf mich wirken zu lassen.
N achdem mich die Arzthelferin allein im Behandlungsraum zurückgelassen hat, blicke ich mich um. An jeder Wand hängt je eine riesige Fotografie. Der Arzt kommt nicht. Er will mir Zeit geben, damit ich sein Werk in Ruhe genießen, es auf mich einwirken lassen, es verstehen kann.
Da ist vor allem das Motiv „Stille Wasser“, ein Bach in einer äußerst langweiligen Landschaft, wie der unkundige Betrachter zunächst glauben mag. Das aber ist zu kurz gegriffen. Die Landschaft ist nicht langweilig, sie sieht nur langweilig aus. Denn wer sich bloß ein bisschen Mühe gibt und sich der Kunst so öffnet, wie sie es verdient, wird wunderbar belohnt.
Sehen wir uns die Komposition doch einmal näher an. Außen herum ein schöner Rahmen. Plastik wohl. Gutes Plastik. In der Mitte ein Bach. Links daneben ein Baum. Bach. Baum. Das ist, was das Bild uns zeigen will. Oder auch: Baum. Bach. Also in umgekehrter Reihenfolge. Verwirrend, aber schön.
Mit einem Mal tun sich Interpretationsspielräume auf, zahllos und unendlich weit wie Galaxien. Der Bach liegt still. Der Baum steht daneben und schweiget. Was will er uns sagen: Neben mir fließt ein Bach. Warum bin ich hier? Huch, ich werde fotografiert.
Man steht da vor diesem Bild wie im Ayahuasca-Nebel. Oben ist unten, die Mitte ist am Rand, nur hinten ist links. Und dann erst der Himmel! Ich bin blau, schreit dieser Himmel geradezu den Betrachter an, wütend, laut, dass es kaum zu ertragen ist, auch der Baum schreit, der Bach schreit, sie alle schreien, schrill, man möchte sich die Ohren zuhalten und schafft es doch nicht. Kunst muss manchmal eben wehtun.
Und das alles offenbar mit einem alten Handy fotografiert und dann auf A0 hochgezogen. Schön ist das nicht. Aber interessant. Man muss auch mal was wagen. Man tut mir bitter Unrecht, seufzt es hier aus jeder Raufaser der blutbespritzten Tapete, ich bin eigentlich gar kein Arzt, ich bin ein Künstler im Körper eines Arztes gefangen, der wiederum in einem Arztzimmer eingesperrt ist, anstatt stolz und frei durch eine Galerie zu schweben.
„Lassen sie mich durch, ich bin Arzt“, höre ich nunmehr durch die geschlossene Tür. Der Künstler hat das Arztsein wohl doch ein Stück verinnerlicht. Wenn mir schon die Anerkennung verweigert und „Stille Wasser“ niemals seinen gerechten Platz im Museum of Modern Art in Astana bekommen wird, scheint er sich zu denken, dann lässt man mich hier wenigstens durch. Weil ich es sage. Weil man mich für einen Arzt hält. Das ist doch auch schon was.
Er hat den Lebensmut nicht verloren. Andere hätten sich längst umgebracht. Er aber ist ein Kämpfer für eine wahrhaftige Kunst, die nicht auf den eitlen Erfolg schielt, ja, nicht einmal auf ein Publikum, sondern allenfalls auf Patienten. Eine Kunst nur um der Kunst willen, ein dem allmächtigen Gott auf dem Altar der Demut dargebrachtes Geschenk. Stille Wasser sind tief.
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