Die Wahrheit: Zoff am ZOB
Wer auf den letzten Drücker vor Abfahrt am Berliner Zentralen Ommnibusbahnhof eintrifft, dem entgeht ein geharnischtes Sittenschauspiel.
I st es schön, in die deutsche Hauptstadt zu gelangen, so ist es noch schöner, sie zu verlassen. Die soziologisch aufschlussreichste Option, was das Verlassen Berlins angeht, verbirgt sich nach diversen persönlichen Experimenten ganz eindeutig hinter der Option Bus.
Der Zentrale Omnibusbahnhof, kurz ZOB, beheimatet im tiefsten Westberlin gleich beim ehemaligen Sender Freies Berlin, ist hier jeder anderen Zustiegsmöglichkeit vorzuziehen. Fast möchte man sein Gefährt nach wahlweise „West“- oder „Ostdeutschland“, wie der Berliner zu sagen pflegt, freiwillig verpassen, so pulsiert der ZOB, gewandet in eine Architecture brute der betonierten Zeitenwende um 1970 herum.
Wer an Ort und Stelle auf den berüchtigten letzten Drücker vor Abfahrt erscheint, dem entgeht ein Kaleidoskop von Sitten und Gebräuchen, von Menschlich- und Unmenschlichkeit. Gelegen unweit des dem Untergang geweihten Kongresszentrum ICC, trifft sich im „bistro am zob“ alles, was auf Anschluss wartet.
Hier wird nachtschwarzer „Berlin Kaffee to go“ in knallroten Pappbechern mit Kapitalen-Silhouette ausgeschenkt, hier wird schmutzige Leibwäsche am Stehtisch sortiert oder ein Auge der Fatima an der Kasse erworben. Warum auch sollte man dem angeblich sicheren Verkehrsmittel Bus trauen, zumal so mancher Billiglinien-Fahrer nicht so recht vertrauenswürdig aussieht? Da hilft dann nur noch Beten im Angesicht der Fatima.
Umschallt von „Nach Gelsenkirchen auf Steig vier“ und „Flensburg von fünf auf zwei“, fegt ein barbusiger Straßenkehrer mit sehr großem Miss-Piggy-Tattoo auf einem sehr kleinen Stück des ZOB sehr viel Müll in Form von gerissenen Kofferbändern, abgegessenen asiatischen Fastfoodboxen und FDP-Handzetteln („Tegel retten!“) zusammen. Ein abgerolltes Kondom ist auch dabei, und als man sich noch einen zweiten Kaffee im Bistro holen will, steckt die Schuhsohle an einem Kaugummi fest.
Der barbusige Straßenkehrer erklärt derweil mit leuchtenden Augen zwei jungen Rucksacktouristinnen den Weg nach „Mitte – in Center, mittenmang. Okay, Ladys?“ Die beiden bedanken sich artig und laufen dann in die falsche Richtung, vorbei am verheißungsvoll klingenden Schild „Bus 218 Pfaueninsel“.
Plötzlich baut sich vor einem ein Hüne auf. Wie ein Pirat sieht er aus, samt Wallebart und Ringelhemd. Einen kleinen, scheu lächelnden Jungen führt er mit sich, und der Pirat möchte einem Diebesware in Form eines brandneuen Glitzer-Smartphones verticken. Als man ablehnt, stößt er Flüche aus. Wenig später ist der Pirat umringt von einer Streife, der kleine Junge verschwindet hinter den Uniformen der Polente.
Zum Abschied vom Zentralen Omnibusbahnhof – denn „Zingst auf drei“ ruft – gibt es Freibier. Zu diesem Behufe schmettert einem ein Obdachloser absichtlich eine Pulle „Berliner Kindl“ vor die Sandalenfüße. „Det ham Se nu davon!“, ruft er im Abgang begriffen. Im Omnibus regnet es bei Reihe zwei hinein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!