Die Wahrheit: Frischer Wind von vorn
Berlin geht mit seinen Anstalten, auch Schulen genannt, völlig neue Wege. Fachkräftemangel? Wird in der Hauptstadt kreativ gelöst.
Nach einem Drittel des Schuljahrs, kurz vor den Winter und Weihnachtsferien, wird es Zeit für eine erste Zwischenbilanz dieses pädagogischen Jahrgangs. Denn als man vorigen Sommer sogar im traditionell bildungsskeptischen Berlin erkannte, dass Grundkenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen unabdingbare Basics sind, um komplexe Vorhaben wie den Bau eines Flughafens oder den Nichtbau eines Stadtschlosses zu verwirklichen, suchte die Hauptstadt auf einmal händeringend Lehrer für ihre Grundschulen.
Zunächst warb man um Fachkräfte aus anderen Bundesländern, dann um berufliche Quereinsteiger. In Ungnade gefallene DDR-Pädagogen wurden zurückgeholt und schießen heute auf Schwänzer, die versuchen, über die Schulmauer hinaus in die Freiheit zu klettern; blutjunge Referendare werden eingestellt, sobald sie nur sauber und abgestillt sind. Schließlich buhlte man sogar um Didaktiksöldner aus Österreich. Dabei unterrichten Grundschullehrer zwingend auch Deutsch. Das ist, als würde man Satanisten als Religionslehrer einstellen.
Angesichts solch niedriger Qualifikationshürden erscheint es nur legitim, dass man nun auch auf Angehörige völlig anderer Berufsgruppen zurückgreifen möchte. Denn noch immer fehlen Lehrkräfte. Einzige Bedingung: Die Berufsbezeichnung der Bewerber muss in irgendeiner Form die Wörter Lehre oder Schule enthalten – die Kompetenz ergibt sich dann schon von allein beziehungsweise durch Learning by Doing, wie der Franzose sagt. Oder sagen würde, sollte in seinem Land dem Fremdsprachenerwerb eines Tages doch einmal ein ähnliches Gewicht wie dem Unterricht in Faire-amour-à-trois beigemessen werden.
Die ersten Erfolge der Methode können wir in der Harald-Juhnke-Unterschule im Wedding bewundern. „Mit meiner neuen Setzordnung haben wir einen Quantensprung in puncto Gruppendynamik vollzogen“, verkündet Aushilfslehrer Günter Schievelbeiner (52) stolz. „Man muss die Schüler vereinzeln“, fährt der ehemalige Gärtner fort, der seine Tätigkeit in einer Baumschule aufgrund von Allergien aufgeben musste. „Sowohl zwischen jedem Platz als auch zwischen den Bankreihen muss ausreichend Abstand vorhanden sein. Nur so können sich die Kinder optimal entfalten.“ Im Klassenzimmer riecht es streng: Der Naturdünger unter jedem Schüler ist eine olfaktorische Herausforderung. Aber die Kleinen wachsen und gedeihen prächtig.
Über den Schmerz hinweg fordern
Die fachfremden Kräfte setzen überfällige Reizpunkte und geben dadurch frische Impulse, die wertvolle Erfahrungen aus anderen Professionen für den Lehrberuf verwertbar machen und ihn auf diese Weise sogar weiterzuentwickeln in der Lage sind.
Das bestätigt sich auch im Fall der gelernten Ergotherapeutin Mette Harmstorff (37), die der Ruf des Berliner Schulsenators in ihrer schlecht laufenden Rückenschule nahe Parchim ereilt hat. „Kinder sind wie Rücken“, erläutert sie ihr Konzept. „Sie müssen über den Schmerz hinweg gefordert werden, damit sie Leistungskraft erlangen.“ Mit dem Lächeln eines Blindenhunds, der seinen Schützling vor die einfahrende Straßenbahn lotst, schenkt sie uns einen kleinen Reim: „Du musst sie tüchtig quälen – nur so kannst die sie stählen.“
Die Schüler spuren tadellos
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Ronny Schmitt (47), vormals Leiter einer Hundeschule in Zwickau. „Der Schüler muss zu unbedingtem Gehorsam erzogen werden. Konditionierung, Konsequenz und Souveränität: Das sind die Eckpfeiler einer erfolgreichen Abrichtung.“ Mit einem langen Pfiff sammelt er seine Meute zum Unterricht, die ihm in den Klassenraum folgt, sich auf Kommando („Sitz!“) setzt und das Einmaleins herunterbellt. Der Lehrer brüllt hier einen Tadel, greift da fest in ein Genick hinein und belohnt dort mit einer Leckerei. Die Schüler spuren tadellos. Um die zukünftige Elite unseres Landes ist uns da nicht bange.
Der gesunde Geist wird überdies in einem gesunden Körper wohnen: Im Bubi-Scholz-Insgesamtschulzentrum in Haselhorst geben gleich mehrere Mitglieder einer Delfinschule den Kindern Schwimmunterricht – bis zur entsprechenden Weiterbildung sind sie ebenso vom Deutschunterricht befreit wie mittlerweile auch die österreichischen Kollegen. Den Karrierechancen tut das keinen Abbruch. Seit das siebenjährige Delfinweibchen Franz im Lehrerbeirat für die Verbannung von Thunfisch aus der Schulkantine und Fangnetzen aus der Turnhalle kämpft, gilt es als Favoritin für die Neubesetzung des Rektoratspostens. Zeit wird es, dass auch in den Schulleitungen endlich ein frischer Wind weht.
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