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Die WahrheitDie Rechnungen des Monsieur Dupré

Wie in Wahrheit ein Brüsseler Bürokrat über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens und den Brexit entschieden hat.

Illustration: Burkhard Fritsche

Im dritten Untergeschoss eines unscheinbaren Brüsseler Bürogebäudes sitzt der vielleicht mächtigste Mann der Europäischen Union und putzt seine Brillengläser mit einem Damenschlüpfer, auf den der damalige britische Premierminister Edward Heath die Spesenabrechnung der Beitrittsverhandlungen seines Landes im Sitzungsjahr 1972/73 mit Lippenstift notiert hatte.

„Diese Prüfung war meine erste Amtshandlung“, erzählt Henri Dupré verträumt, der als blutjunger Einser-Absolvent der renommierten französischen Verwaltungshochschule Ennui zur europäischen Administration gewechselt war. Doch anders als seine Kommilitonen, die längst große Karrieren in der Politik gemacht haben, hockt der leidenschaftliche Aktenfresser noch immer in demselben lichtlosen kleinen Büro zwischen mannshohen Papierbergen. Trotzdem bezeichnet sich Dupré nach einem kurzen Blick in die entsprechende Verordnung als „glücklich nach Paragraf 76, Absatz 2 des EUVerwG“.

Kostenfalle Minibar

„Wo könnte ich sonst jeden Tag neue administrative Akte von derart bizarrer Schönheit betrachten“, erklärt Dupré und heftet vorsichtig eine Staubfluse ab. „Für uns Verwaltungsfachleute ist die EU so etwas wie das Great Barrier Reef. Wenn man einmal da war, will man nie wieder weg. Aber Sie sind wegen der Briten-Rechnung hier, nicht wahr?“

Das sind wir in der Tat. Denn es ist das Zahlenwerk des Bürokraten Dupré, das über die Zukunft Großbritanniens entschieden hat, und nicht etwa der britische Wähler, dessen Votum der Beamte kühl lächelnd als „interessantes Stimmungsbild“ bezeichnet.

Der Austritt aus der EU hätte für die Briten ruinös werden können, noch weit kostspieliger als sämtliche royalen Apanagen multipliziert mit den Skandalen ihrer Empfänger. Ausschlaggebend dafür wäre nicht etwa der künftig teuer zu bezahlende Zugang zum EU-Binnenmarkt gewesen oder die Abwanderung der internationalen Finanzdienstleister, sondern die Minibar.

„59.698 leer getrunkene Minibars, um genau zu sein.“ Dupré wirft einen altertümlichen Computer an und lässt grüne Zahlenkolonnen über den schwarzen Monitor rattern. „Und das ist nur die Spitze des Eisfachs, wenn ich mir diesen Scherz erlauben darf.“

Dupré fährt ein weiteres Ungetüm hoch, es ächzt und stöhnt, spuckt aber schließlich ebenfalls Zahlen aus. „Da wären neben Bewirtungskosten auch noch 13.996 Taxifahrten und 23.234 Stunden Pay-TV offen, die sich britische Delegationen und deren Gäste in Brüssel und Straßburg auf Kosten der EU genehmigt haben.“

Wir rechnen kurz nach. „Das sind im Schnitt ja gute acht Stunden Erwachsenenunterhaltung pro Tag und Mandatsträger.“ Dupré nickt. „Die Briten sind vergleichsweise prüde. Sie ahnen ja nicht, was die Vertreter anderer Nationen so weggucken. Seit dem Beitritt Großbritanniens ist natürlich trotzdem einiges zusammengekommen. Aber ich habe jeden einzelnen Beleg gesammelt.“

Der ältere Herr mit dem aschgrauen Teint staubt vor Stolz, als er mit beiden Händen einen Zettel aus einem der Stapel reißt, der schief noch oben wächst und sich an der Zimmerdecke mit dem gegenüberliegenden zu einem gotischen Spitzbogen vereint. Kurz scheint es, als würde die papierene Kathedrale über uns einstürzen, doch Dupré erhebt nur sachte drohend die ärmelschonerbewehrte Rechte und schon erstarren die Aktenmassen.

„Das ist eines meiner Lieblingsstücke“, spricht der Dokumentenflüsterer liebevoll. „Da hat ein britisches Oberhausmitglied auf Brüssel-Besuch eine Rechnung über die Anmietung von 37 exotischen Tänzerinnen in Wehrmachtsuniformen, 13 kleinwüchsigen Akrobaten mit Hitlerbärtchen, drei Kriegselefanten und einem Blumengesteck eingereicht, um das D-Day-Jubiläum 1994 in stiller Einkehr sowie in seiner Suite begehen zu können. Beiliegend auch die Renovierungskosten für den gesamten ersten Stock seines Hotels, datiert auf den Tag danach.“

Dupré verschwindet kopfüber in den Belegen, die den Boden bedecken wie Herbstlaub und taucht dann unvermutet hinter uns mit einem weiteren Fund auf. „Und hier hat ein walisischer Hinterbänkler des Europaparlamentes wiederholt den Bergmannschor seines Wahlkreises einfliegen lassen, um sich den Wortlaut der Maastrichter Verträge komplett vorsingen zu lassen. Als Grund für die Aufwendung hat er Schlafstörungen angegeben.“

Raschelnd pflügt der emsige Bürokrat durch den Blätterwald, mit glosenden Augen bewirft er uns mit immer neuen Schriftstücken, die samt und sonders mit „Rule Britannia“ gekennzeichnet sind, dem inoffiziellen Motto der britischen Ratspräsidentschaften.

„Und alle diese kleinen Extrawürste werden jetzt also rückwirkend fällig?“, fragen wir, um Dupré wieder zur Räson zu bringen, der gerade so ausgelassen in seinen vergilbten Papieren herumtollt wie ein junger Hund in seinem ersten Schnee.

Bürokratisches Waterloo

„So steht’s handschriftlich unter dem Appendix der Römischen Verträge, und die sind nie außer Kraft gesetzt worden. Hat sowieso nie jemand gelesen, war bis jetzt aber auch ega-hal“, ruft uns der furchtlose Verwaltungsmensch aus schwindelerregender Höhe zu und geht sogleich mit einer Papierlawine zu Tal.

„Mon dieu! Natürlich hat bis heute kein einziges Mitgliedsland seinen Deckel bezahlt“, ächzt Dupré, als wir ihn geortet und ausgegraben haben. „Aber das war bislang kein Problem. In der Kneipe müssen sie ja auch erst zahlen, wenn sie nach Hause wollen.“

Und dann lächelt Henri Dupré so herzzerreißend maliziös, wie es nur ein französischer Amtmann vermag, dem es gelungen ist, einem englischen Bittsteller ein bürokratisches Waterloo zu bereiten.

„Das ist natürlich jetzt blöd für die Briten“, zuckt Dupré mit den Achseln. „Aber da kann man nix machen, pacta sunt servanda und dergleichen.“

„Können Sie denn schon die Summe nennen, mit der die Briten bei der EU in der Kreide stehen?“, wollen wir wissen.

„Ich würde Ihnen am liebsten die komplette Rechnung ausdrucken. Allerdings haben wir da leider ein kleines technisches Problem. Der Drucker streikt. Und die Finnen.“ Dupré zwinkert uns zu. Offenbar amüsiert er sich napoleonisch.

Bis zum Mond und zurück

„Der Briten-Bon würde komplett ausgedruckt bis zum Mond und zurück reichen. Dafür reichen die Papierreserven der EU bei Weitem nicht aus, und wenn wir Finnland noch weiter abholzen, treten die auch noch aus. Wir geben jetzt erst einmal eine Machbarkeitsstudie in Auftrag, dann eine zu Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit und dann wird in allen Mitgliedsländern der EU über den Ausdruck abgestimmt, damit es eine Diskussionsgrundlage für die Gipfeltreffen der Länderchefs gibt, auf deren Empfehlung die Kommission eine willkürliche Entscheidung treffen kann, wobei das EU-Parlament sich natürlich noch mit seinen Lobbyisten abstimmen muss. Sonst beginnt der Prozess von vorn, ist ja logisch. Ich schätze, so in 150 Jahren ist der Drops gelutscht. Bis dahin müssen die Briten erst mal Mitglied bleiben.“

Tief beeindruckt verlassen wir das Büro. Um die Einheit der Europäischen Union muss man sich keine Sorgen machen, solange in ihren Katakomben bürokratische Monstren wie der freundliche Monsieur Dupré hausen.

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