Die Wahrheit: Geh doch betteln!
Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst und wird inzwischen in jede einzelne Familie hineingetragen.
Pfeifend packt Gabi Schuster ihren Reisetrolley. In drei Stunden geht das Flugzeug nach Mauritius. „Ich freu mich schon so!“, zwitschert die 52-Jährige aufgeregt. Rolf Schuster steht in der Tür, die Hände in den Hosentaschen, und schaut auf seine löchrigen Hauspuschen.
Was Gabi Schuster dreimal im Jahr vergönnt ist, davon kann ihr Mann nur träumen. „Eine Flugreise! Mensch, das würde ich auch gern mal machen. Wie das wohl ist?“, sagt er und schaut sehnsüchtig aus dem Fenster, auf die Stadtsilhouette von Rotenburg (Wümme).
Der 5. Armuts- und Reichtumsbericht, veröffentlicht vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, zeigt es erbarmungslos: Die Kluft in Deutschland zwischen Arm und Reich, sie wächst unaufhaltsam. Auch in der Familie. Deutschland, eine brutale Klassengesellschaft. Und mehr und mehr auch in den eigenen vier Wänden. Wie bei den Schusters.
Gabi Schuster ist Kiefernorthopädin, Rolf Schuster ist Cellist in einem freien Kammerorchester. 2014 verfügte Gabi Schuster über 85 Prozent des häuslichen Nettovermögens. 2015 waren es bereits 89,5 Prozent. 2016 wird sie vermutlich die 90-Prozent-Marke reißen. Tendenz steigend. „Ja, es ist schon erschreckend“, sagt Gabi Schuster und poliert ihre Kreditkarte, „aber was soll man machen? Leistung muss sich doch auch lohnen. Der Mensch strebt, solange er lebt! Erzwungene Gleichmacherei wie im Kommunismus bringt die Menschheit nicht weiter.“
Brutale Klassengesellschaft
Die soziale Kluft bei den Schusters greift tief, bis hinein ins Badezimmer. Gabis Klopapier hat viermal so viele Lagen wie Rolfs und lagert in einem Silberbehälter, nicht in der Wasserpfütze. Sie isst Butter, er Margarine. Sie kauft Nutella, er Nusskati. Sie schlemmt in den Restaurants Muscheln, er nichts als den kleinen Gruß aus der Küche. Sie sammelt Louis-XVI-Porzellan, er Pfandflaschen. Ob das extreme Einkommensgefälle die Partnerschaft nicht belastet?
Gabi Schuster streicht ihrem Mann über das schüttere Haar, sagt: „Klar braucht es viel Sensibilität und Einfühlungsvermögen für andere Lebensweisen, um die soziale Schere auszuhalten. Aber dann kann es klappen.“ Und Rolf Schuster ergänzt: „Ja, wenn sie abends Pralinen futtert, läuft mir schon mal das Wasser im Mund zusammen. Aber dann hau ich mir auf die Stirn und sage mir: Rolf, weg mit den schmutzigen Gedanken, das ist Schweinkram, das ist Sozialneid!“
„Meine Urlaubsreise hat doch auch ihr Gutes“, wirft Gabi Schuster noch ein. „Stichwort Umverteilung. Rolf gießt die Blumen, passt auf die Katzen auf und verdient sich dabei drei Euro die Stunde.“ Winkend steht Rolf Schuster in der Tür, bis der wehende Sommermantel seiner Frau im wartenden Taxi verschwindet.
So wie Rolf Schuster geht es immer mehr Deutschen. Vor allem Frauen. Zum Beispiel Meike Mortens, Hausfrau in Cuxhaven. Das Meer hat die 43-Jährige noch nie gesehen. Meike Mortens – abgehängt wie ihre silbernen Ohrgehänge, die inzwischen im Pfandhaus lagern. Heiko, ihr Ehemann, ist diplomierter Betriebswirt und Abteilungsleiter in einem Bademodenkonzern. Meike hat nur den Realschulabschluss.
Leeres Kühlschrankfach
„Tja, ich sag’s ja immer“, sagt Heiko Mortens, „Meike, sag ich immer: Bildung ist eben der Schlüssel zum Erfolg!“ Dann raunt er augenzwinkernd: „Übrigens, Gegensätze ziehen sich auch an. Und aus! Armut ist ja auch irgendwie geil. Vor allem körperlich!“, grinst er, knufft seine Frau in die Rippen. Und schiebt hinterher: „Klar verteilen wir auch um. Solidargemeinschaft schreiben wir ganz groß. Gucken sie sich nur die Goldzähne meiner Frau an. Das waren vorher meine! Und klar hat sie einen eigenen E-Mail-Account und ein eigenes Kühlschrankfach. Auch wenn da oft nicht viel drin ist.“ – „Hauptsache, den Kindern geht es einmal besser“, nuschelt seine Frau, zaghaft lächelnd. Wobei die wieder mal sauer sind, weil es zum Geburtstag nur vom Papa was Schickes gab.
Heiko Mortens legt den Arm um die Schulter seiner Gattin: „Ich glaube fest daran, dass sie da irgendwann rauskommt. Jeder kann es schaffen! Ich sage immer, Meike, sag ich immer: Du kannst doch was machen, die Kinder sind groß. Du hast doch zwei gesunde Hände. Geh doch betteln!“
Bei Rolf Schuster in Rotenburg (Wümme) ist heute ein Paket eingetrudelt. Absender: Gabi Schuster, Bel Air, Mauritius. Aufgeregt reißt Rolf das Packpapier auf. Hologramm-Postkarten fallen heraus, eingeschweißte Bonbons, ein Insel-Bildband auf Französisch sowie ein Paar palmenbedruckte Badeshorts. „Endlich! Das Bildungs- und Teilhabe-Paket!“, jubelt Rolf und tanzt in den neuen Shorts fröhlich durch den Flur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern