Die Wahrheit: Atlantis aus Tüten
Im Pazifik entsteht derzeit ein neuer Plastikkontinent, der bald von Menschen besiedelt werden kann, wie kalifornische Umweltaktivisten hoffen.
Mit beiden Händen wirft der 16-jährige Joey Fontanella zerknüllte Plastiktüten in die laue Brise des hawaiianischen Abends. Einige wehen malerisch über den makellosen Sandstrand, andere wählen scheinbar instinktiv den kürzesten Weg zum Spülsaum und huschen wie frisch geschlüpfte Schildkröten den Wellen entgegen.
Ein besonders kecker Beutel steigt hoch in die Lüfte, umschlingt den Hals eines dahinsegelnden Albatros und bringt das Tier zum Taumeln, bis es erdrosselt ins Meer klatscht. „Du sollst nicht umsonst gestorben sein“, ruft der Umweltaktivist dem dümpelnden Kadaver nach und hebt die Hand zum Schwur.
Seine Anhänger applaudieren, und Joey wischt sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Schnell werden die Tüten von der Strömung erfasst und treiben aufs offene Meer hinaus, wo sie sich mit ihren Artgenossen und verwandtem Zivilisationsunrat zum großen nordpazifischen Müllstrudel vereinen werden.
Müllhalde von den Ausmaßen Mitteleuropas
Fontanellas Augen beginnen wieder zu leuchten, als er vom Great Pacific Garbage Patch erzählt, einer schwimmenden Müllhalde von den Ausmaßen Mitteleuropas. Mit seiner unabhängigen NGO „Plastic Fantastic CruiseAid“ will der jugendliche Visionär dafür sorgen, dass der Haufen bis 2025 mindestens die Größe Asiens erreicht hat. „Wenn jeder Mensch pro Tag zusätzlich nur fünf Kilo Kunststoffe in die Ozeane wirft, können wir es schaffen“, erklärt Joey, dem auch der soziale Aspekt seiner Kampagne wichtig ist. „Natürlich müssen wir vorher dafür sorgen, dass auch Entwicklungsländer ungehinderten Zugang zu Einwegverpackungen bekommen.“
„Es können ja vorerst gebrauchte sein. Müllexporte in die Dritte Welt sind ein probates Mittel, das Wohlstandsgefälle auszugleichen“, sekundiert Fontanellas Vater, der einen gutdotierten Job in der Entsorgungsbranche aufgegeben hat, um den Sohn auf seinem Kreuzzug zu unterstützen. Der hat einen kleinen Haufen leerer Benzinkanister erklommen und schwört seine Gemeinde auf das gemeinsame Credo ein: „Vor unseren Augen erhebt sich ein neuer Kontinent aus den Weltmeeren und jeder von uns kann einen Teil zu seinem Entstehen beitragen.“
Experimenten zufolge, die das Wunderkind bereits im Alter von zehn Jahren in der Badewanne angestellt haben will, soll sich der schwimmende Teppich aus Kunststoffpartikeln in den nächsten Jahren derart verfestigen, dass eine Besiedlung durch Menschen vorgenommen werden kann.
Landmasse aus widerstandsfähigem Hartplastik
„Ein abwaschbare, wiederverwendbare Landmasse aus widerstandsfähigem Hartplastik entsteht, eine neue Heimstatt für die Menschheit. Ideal für Allergiker und modernen Hygienestandards angemessener als herkömmliche Länder aus Erde und Staub. Die sind doch eher etwas für Tiere.“
Zwar wird die Theorie des Teenagers von Meeresbiologen heftig bestritten, doch nachdem Wissenschaftler an den Stränden Hawaiis kürzlich ein Sedimentgestein auf Plastikbasis entdeckt haben, hat das originelle Gedankengebäude des wissenschaftlichen Autodidakten deutlich an Stabilität gewonnen. Joey hebt eines der Plastiglomerate in die Höhe. Für die Fachwelt ist das Gemisch aus zermahlenem Kunststoff und Sand zwar nach wie vor Teufelszeug, an dem die Welt ersticken wird, doch von Fakten hat sich Fontanella noch nie beirren lassen.
„Ich habe Plastik schon geliebt, als ich noch an der Brust meiner Mutter lag“, ruft Joey pathetisch in die Runde. Rückhalt erfährt der Pionier vor allem im Internet, wo jeder Widerspruch gegen etablierte Lehrmeinungen als wegweisender Durchbruch gefeiert wird, wenn er nur laut genug herausposaunt wird, von den Offshore-Thinktanks der erdölverarbeitenden Industrie und dem eigenen Elternhaus.
„Wir haben schon immer gewusst, dass Joey nicht einfach nur hochbegabt ist wie normale Kinder. Er ist dazu bestimmt, die Welt zu retten“, erklärt Mutter Rozelle. Die plastische Chirurgin aus dem kalifornischen Silicon Valley gilt als braungebrannte Eminenz der Organisation und ist selbst deutlich mit synthetischen Polymeren unterfüttert. „Schon im Kindergarten hat Joey gern Spielzeuge auseinandergenommen, heruntergeschluckt oder ins Klo gespült, aber niemand erkannte sein Genie, auch wenn ich ihn schon damals prophylaktisch zum Nobelpreis angemeldet hatte.“
Kreuzfahrt der Crowdfunder in die neue Heimat
Mittlerweile formiert sich tatsächlich eine Onlinekampagne, die dem jungen kalifornischen Aktivisten die begehrte Trophäe in den Sparten „Chemie“, „Frieden“ und „Lifestyle“ zukommen lassen will, denn noch immer elektrisiert die Menschen offenbar nichts so sehr wie die Aussicht auf Inbesitznahme jungfräulichen Landes, an dem man auch noch schadlos Raubbau betreiben kann, weil es zu hundert Prozent recycelbar ist.
Über mangelnden Zuspruch können die Fontanellas jedenfalls nicht klagen. Und so legt die kunterbunte Familienyacht „Plastic Majestic“, ein ehemaliger Stückgutfrachter mit immerhin 8.000 Bruttoregistertonnen, noch am selben Abend zu einer weiteren ausgebuchten Kreuzfahrt ab, bei der vermögende Crowdfunder ihre neue Heimat mit ihrem ganz persönlichen Müll anreichern können, der in feierlicher Zeremonie nachts über Bord gekippt wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben