Die Wahrheit: Das letzte Rentier
Teil 9 der großen Wahrheit-Sommerserie „Ympäri Suomen – Rund um Finnland“. Heute: Rauch im Mökki, mit Ofen, Brennholzund Streichhölzern.
Im vergangenen Jahr erschien das Buch „Finne dich selbst“ von Bernd Gieseking. Ein Jahr später will der Wahrheit-Autor überprüfen, ob auch alles noch seine Richtigkeit hat, was er seinerzeit über das seltsame Suomi geschrieben hat. Deshalb umrundet er nun einen Sommer lang für die Wahrheit, die sonst strikt Umrundungen aller Art ablehnt, Finnland.
Kurz unterm Polarkreis folge ich Mökki-Schildern. Ich miete eine Hütte am See. Das Wetter ist kühl und regnerisch. Ob sie mir Feuer anmachen sollen? Das schaffe ich schon, sage ich. Schließlich bin ich Ostwestfale, denke ich. Auf dem Land groß geworden. Wir haben Kartoffelfeuer gemacht, Kartoffelkäfer drin verbrannt und Kartoffeln am Stock gebraten.
Drei Dinge braucht der Mann, Ofen, Brennholz, Streichhölzer. Minuten später steht Rauch in meinem Mökki. Die späte Rache der Kartoffelkäfer. Kaum habe ich das gedacht, erfahre ich, wie laut ein Rauchmelder ist. Ich reiße Türen und Fenster auf. Niemand auf dem Gelände oder in den anderen Mökkis rührt sich. Freundlich überhört man meine Peinlichkeit. Nach dem dritten Rauchmelderalarm schwant mir was. Ich suche die Luftklappe am Schornstein! Das war’s. Bitte! Geht doch!
Ich schaue in meine Mails. Das Fährunternehmen Tallin Silja Line schreibt mir. Sie fragen, was ich in einigen Wochen auf der Fähre während meiner Rückfahrt essen will. Ich weiß aber heute noch gar nicht, ob ich dann überhaupt Hunger haben werde.
Seit Ruka ist etwas Seltsames passiert. Ich sehe Autos! Eins, dann zwei. Sie fahren vor mir. Drei hinter mir. Und die Gegenspur ist quasi voll! Das hatte ich seit Wochen nicht mehr. Als Gegenverkehr hatte ich auf den letzten 2.000 Kilometern höchstens Rentiere, und überholt hat mich nie eins. Hier knarzt mich beim Halt angeberisch ein Baum an. Elf, zwölf, fünfzehn Meter hohe Kiefern statt kleiner Birken stehen plötzlich wieder am Wegesrand und wollen Aufmerksamkeit. 500 Kilometer von der Nordspitze Finnlands entfernt, kurz vor Kuusamo sehe ich das erste Blitzgerätewarnschild. Vielleicht hebt das hier statistisch die Blitzgerätedichte des finnischen Südens wieder auf.
Ich fahre weiter Richtung Süden auf der Via Karelia. Mein Ziel sind die Felsmalereien bei Hossa. Der Ort heißt so. Als Deutscher denkt man unwillkürlich an die „Fiesta Mexikana“ von Rex Gildo. Bei Kemijärvi denkt man an Kammerjäger.
Von Hossa aus muss ich eine schmale Straße an winzigen Seen entlangfahren. Dann rechts ab, auf einen Waldweg. Nach einigen Kilometern halte ich an einem Parkplatz und frage Angler. Ich muss noch ein Stück weiter fahren, dann rechts in einen kleineren Weg. Dann noch mal rechts. Da komme ein noch schmalerer Weg. Auf dem kleineren Weg denke ich: „Noch schmalerer Weg? Wenn der Weg noch enger wird, passt mein Auto nicht mehr drauf. Ich werde zwischen den Bäumen stecken bleiben!“ Mein Auto und ich halten die Luft an. Passt! Dann wandere ich vier Kilometer zu den Felszeichnungen, die bis zu 7.000 Jahre alt sind. Erhaben! Dann eine andere Strecke über fünf Kilometer zurück. Bei Hunger gibt es Blaubeeren in Knöchelhöhe, niemand in Finnland hat je vom Fuchsbandwurm gehört. Gegen den Durst fließen Bäche.
Ich fahre weiter. Jedes Rentier, dass ich nun sehe, könnte mein letztes sein. Irgendwann stelle ich fest: das letzte war das letzte. Dafür erschrecke ich fast: Ich sehe Rinder. Und Pferde, mir inzwischen völlig fremde Spezies.
Ich denke zurück an Lappland. An meine erste Moltebeere, für die der Finne so viele Worte hat wie die Inuit für Schnee, unter anderem Lakka und Hilla. Ich denke an wundersame Rentierabschreckmaschinen. Betonmischmaschinen mit Steinen darin, verschlossen, die gekoppelt mit Lichtschranken, losrumpeln, wenn ein Rentier die Bezirksgrenzen überschreiten will.
Weiter geht es über Kuhmo, Nurmes und Lieksa. Ich fahre auf einen Zeltplatz, um wieder ein Mökki zu bekommen. Ich bemerke etwas Seltsames. Werden meine Augen plötzlich schlechter? Es ist so düster auf einmal. Die erste Nacht mit Dämmerung! Mit einer leichten Dunkelheit um Mitternacht. Ich stehe am See und staune vor mich hin. An der Autobrücke rechts am See sehe ich sogar Lampen brennen! Ich bin zurück in der Welt des elektrischen Lichts.
Die Karelier hier sagen mir, sie seien viel fröhlicher, mitteilsamer, offener als die anderen Finnen. Aber mir gegenüber hat sich niemand verschlossen in diesen Wochen.
Ich weiche etwas von meiner Route ab und besuche meine finnische Kasseler Freundin Pirkko mit ihrer Familie in Sulkava an der Saima-Seenplatte. Ihr Mann Günter zeigt mir zwei Pilzbestimmungsbücher, ein finnisches, ein deutsches. Lorcheln stehen im deutschen Buch als lebensgefährlich, „nicht berühren!“, im finnischen Buch heißt es erst: „giftig“, dann folgen die Rezepte.
Am nächsten Tag fahre ich nach Imatra und Lappeenranta. Dort erleide ich fast einen Schock. Ich fahre durch eine Unterführung! Seit Wochen war nichts über meinem Kopf außer Himmel. Nichts müsste überbrückt werden, nur Flüsse. Jetzt kommen sogar Ampeln! Helsinki rückt näher. Und immer noch kein Elch! BERND GIESEKING
(Fortsetzung nächsten Dienstag)
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