Die Wahrheit: Musenkuss am Jännerfluss

Brasilienwoche der Wahrheit: Über Fußball und andere lebensbeherrschende Nebensachen.

Mitfiebern bis zur schieren Selbstaufgabe: Echten brasilianischen Männern bedeutet der Fußball alles. Bild: dpa

Brasilien ist ein sehr großes Land. Fast 25 Deutschländer würden da hineinpassen. Brasilien hat all seine Energie für die Landausdehnung verbraucht und danach nur noch Kraft für einen seltsam verkürzten Namen: Brasil. Und man spricht es auch seltsam aus, so was wie Brasiu. Seine Hauptstadt heißt launigerweise Brasilia – das ist, als würde man Berlin Deutschlandia nennen. Seine größte Stadt liegt am Januarfluss. Das Land selbst hinter dem großen Ozean mit Namen Atlantik, und dann noch ein großes Stück weiter unten. Schon Weltumsegler lange vergangener Jahrhunderte haben Brasilien nicht verfehlt.

Bald nach der Entdeckung des Landes gab es in Europa Berichte über die wilden Tänze seiner Einwohner. Dabei werden die Becken sehr stark geschwungen, geschwubbelt und gewackelt. Die Exzesse nahmen zu. Heute läuft kaum noch ein Brasilianer über 25 ohne künstliche Hüftgelenke herum. Diese haben längst einen Vibrationsmotor, so dass man auch ohne eigene Bewegung meisterhaft diese Samba vollführen können. Deshalb heißt der Tanz auch so: Samba – Schütteln automatisch mit besonderem Antrieb.

Seltsam mutet an, dass brasilianische Männer Bälle lieber mit den Füßen treten, statt sie, der menschlichen Natur angemessen, zu werfen und zu fangen. Nach jahrtausendelangem Üben sind die Brasilianer in der Lage, diese Kunst sehr behände zu bewerkstelligen. Sie nennen es Fußball. Viele Kinder beginnen schon pränatal damit.

Prof. Sergio de Olirimba vom Ginecologia-Institut an Rios Universitätskrankenhaus Santa Mae Maria weiß Erstaunliches zu berichten: „Wir beobachten immer häufiger, dass Neugeborene mit dem ersten Schrei nach einem Ball rufen, bevor sie sich für die Mutterbrust interessieren. Kaum ein Junge sagt später Mama oder Papa, bevor er nicht Gooooooooool rufen kann.“ Gol heißt Tor.

Englische Missionare hatten schon vor 200 Jahren staunende Berichte heimwärts apportiert. Charles W. Miller, Sohn eines eingewanderten Eisenbahningenieurs, schmuggelte 1894 zwei Lederbälle von São Paulo nach London. Dort versuchten die Insulaner, anfangs von vielen selbst verschuldeten Beinbrüchen und anderen Unglücken begleitet, „the strange South American game“ nachzuspielen. Kaum dass sie ihre blassen Holzfüße unfallfrei gegen eine Kugel treten konnten, erklärte sich das Empire zum „Mutterland des Fußballs“. „Dieser Kulturdiebstahl ist eine Verhöhnung unseres Erbes“, teufelten brasilianische Intellektuelle bald.

Später überfielen die bloßgestellten Briten die Falkland-Inseln vor der südamerikanischen Küste, stellten aber erst nach der Eroberung fest, dass die blöden Felsen den benachbarten Argentiniern gehörten. Da lachten die Brasilianer sich scheckig, weil Argentinien so etwas wie ihr deutsches Holland ist.

Fußball bedeutet dem Brasilianer alles. Ein Platz in Amazonien steht mitten auf dem Äquator, so dass weltexklusiv beide Erdhälften bespielt werden. Die Namen der Stars sind so fantasiereich wie ihr Spiel. Sie nennen sich nach griechischen Philosophen (Socrates), italienischen Dichtern (Dante), nach kulturübergreifenden Stoffwechselendprodukten (Kaká) und Süßgetränken (Cacau) oder nach der mittelstürmenden Büffelherde Ronaldo (Ronaldinho).

Der Superdribbler Garrincha (1933–1983), dem noch jeder Ball wie mit Manaus-Kautschuk verklebt an den Zehen haftete, brillierte wegen eines X- und eines O-Beins. Die Fehlstellung war Folge einer missglückten Samba-Operation (siehe oben) und wurde erst beweint, später als göttliche Fügung bebetet. Noch heute weiß jedes brasilianische Kind: Fußball lebt vom Musenkuss, besonders an dem Jännerfluss.

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