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Die WahrheitFeldversuch mit Pfefferspray

Kolumne
von Joachim Frisch

Die Macht des sichtbaren Zeichens kann zwar noch nicht Berge versetzen, dafür aber bei Weltmeisterschaften und anderem Gedöns sehr weiterhelfen.

S prühsahne und Pfefferspray. Das sind die Dinge, die in Erinnerung bleiben werden von dieser WM. Außerhalb der Stadien hilft das Pfefferspray, Proteste gegen die Linie von Fifa und Finanzkapital zu vereiteln, in den Stadien hilft die Linie aus Sprühsahne, renitente Fußballprofis zu zähmen. Zumindest die Sprühsahne funktioniert nahezu perfekt.

Was war das bislang bei Fußballturnieren jedes Mal für ein Gezeter, bis die Abwehrmauern bei Freistößen auf Abstand gebracht waren. Nun genügt ein hingesprühter, zittriger Strich auf dem Rasen, um hyperaktive, vor Adrenalin und Testosteron berstende Gladiatoren mit kannibalistischen Neigungen in artige Befehlsempfänger zu verwandeln. Dass dies funktioniert, liegt an einer zutiefst menschlichen Eigenschaft.

Der Mensch reagiert nun mal nicht auf Vernunft, Logik oder das bessere Argument, sondern auf sichtbare Zeichen. Wir glauben nicht an das, was wir wissen, sondern an das, was wir sehen, an den Augenschein. Diese psychologische Bauernregel schlägt sich in den Lehren sämtlicher Weltreligionen nieder. Dort genügt sogar die schwungvoll vorgetragene Behauptung, etwas gesehen zu haben, um Millionen Follower um sich zu scharen.

Den Beweis, dass diese These von der Macht des sichtbaren Zeichens immer und überall gilt, lieferte neulich ein eindrucksvoller Feldversuch in der Hamburger City im Rahmen eines Radioballetts. Beim Radioballett erhalten Teilnehmer auf gleicher Wellenlänge per Kopfhörer Informationen, die sie sogleich inmitten ahnungsloser Passanten in Taten umsetzen. In diesem Fall kam von dem Freien Sender Kombinat FSK die Anweisung, mit Kreide eine persönliche Grenze auf dem Bürgersteig zu markieren und diese Grenze gegen jedwede Überschreitung zu verteidigen.

Es funktionierte perfekt. Ein wackliger Kreidestrich, eine freundliche Geste mit ausgestreckter Hand und gespreizten Fingern, und schon nehmen zu allem entschlossene Shopping-Hooligans, die ansonsten weder die Grenzen des eigenen Girokontos noch diejenigen des guten Geschmacks respektieren, ohne Murren einen Umweg in Kauf. Durch diese einfache Geste ist es gelungen, im heiligen Gral kapitalistischer Verwertung dessen Strategie der entgrenzten Verfügbarkeit wenigstens für einen Augenblick außer Kraft zu setzen.

Ob die Macht des sichtbaren Zeichens auch im Zusammenspiel mit dem zweiten nachhaltigen Symbol dieser WM, dem Pfefferspray, funktioniert? Man stelle sich vor: martialische Polizei-Kampfeinheiten in Aggro-Schwarz, voller Adrenalin und Testosteron, stürmen wild entschlossen und beißwillig auf Demonstranten zu, die Pfefferspraydose im Anschlag. Statt die Hände aber schützend vor das Gesicht zu halten, zückt ein Protestierer seinerseits eine kleine Sprühdose, kniet nieder, markiert in souveräner Schiri-Manier eine gut sichtbare Linie zwischen sich und den Cops und bedeutet mit einer friedlichen, doch bestimmten Geste, diese territoriale Grenze bitte zu respektieren.

Das wäre einen Versuch wert. Nicht erst zur nächsten WM.

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