Die Wahrheit: Kuh- und Kakofonie
Neues aus der Welt der Hochklassik: Im Tessin sollen Rinder Werke von Wolfgang Amadeus Mozart bimmeln.
„Bislang glaubte man, Kühe seien unmusikalisch. Nun ist gewiss, sie sind es nicht. Die Biologiebücher dieser Welt müssen neu geschrieben werden“, sagt Lutz Rosenblüte bebend vor Pathos. Um ihn herum, hoch oben in den Tessiner Alpen, haben sich Klassikfreunde und Schaulustige aus aller Welt versammelt. Sie sind gekommen, um die angeblichen Erben Mozarts zu bestaunen – eine kleine Herde buntgescheckter Pinzgauer Rinder.
Im Internet sind diese Kühe unter dem Hashtag #coolekühe innerhalb weniger Tage zu echten Stars geworden. Ein verwackeltes Video zeigt sie, wie sie angeblich mit ihren Kuhglocken einen Ausschnitt aus Mozarts „Don Giovanni“ bimmeln. Aber eben nicht Leporellos berühmte Registerarie, die nun wirklich jeder kennt, sondern das eher unbekannte, sperrige Rezitativ: „Orsu spicciati presto“.
„Das Video ist echt“, schwört Ohrenzeuge und Video-Urheber Rosenblüte. Der freiberufliche Dozent für musikalische Früherziehung und Glockenspiel wollte eigentlich nur seine Frau beim Wandern filmen. Die Kühe waren zufällig im Hintergrund, als sie plötzlich zu musizieren begannen. Rosenblüte glaubt, dass die Tiere die Melodien von einem wandernden Opernfreund aufgeschnappt haben müssen, auch wenn die Almwirte behaupten, der einzige Opernfreund in der Gegend sei Rosenblüte selbst, der außerdem seit Tagen an den Viechern herumrüttele.
„Paarhufer sind durchaus in der Lage, komplexe Klangstrukturen zu erkennen. Dass sie diese Töne auch wiedergeben können, ist freilich neu“, bestätigt Hartmut Beil die erstaunliche Theorie Rosenblütes. Der Rinder-Experte wurde eigens aus Bielefeld eingeflogen, wo er eine Forschungsreihe zur Wirkung von Heavy Metal in der Bullenmast unterbrochen hat.
Der prominenteste Gast an diesem Tag stammt jedoch aus Mailand. Es ist der scheidende Scala-Intendant Stéphane Lissner. „Noch nie habe ich diese große Oper so feinfühlig und fragil umgesetzt gehört“, beschwärmt Lissner das Video und verrät, dass er die Kühe an die Scala bringen will. Ein benachbarter Renaissance-Palazzo wird schon abgerissen. Das Grundstück soll zur Weide und Freilichtbühne umgewidmet werden – als bleibendes Vermächtnis Lissners.
Die Kühe selber scheint der Trubel um ihr musikalisches Genie wenig zu kümmern. Während Hunderte Augen, Kameras und Mikrofone gespannt auf sie gerichtet sind, fressen sie Gras und käuen ungeniert wieder. Dabei erzeugen die Glocken an ihren Hälsen eine Kakofonie, die nicht im Entferntesten an Mozarts Werke erinnert.
Unterdessen wirkt Rosenblüte zunehmend nervöser. „Vermutlich sind die Kühe momentan nicht in Stimmung“, sagt er beschwichtigend. Sein hilfloser Blick wandert schließlich zu seiner Frau, die hinter einem kleinen Souvenirstand steht und T-Shirts und Tassen mit dem Aufdruck „Muhzart forever!“ an den Mann zu bringen versucht.
Gegen Mittag wandern die ersten Besucher enttäuscht ab. Einige beginnen damit, die Kühe auszubuhen. Die Rindviecher selbst kommentieren die Anfeindungen mit gelassener Arroganz und frischen Kuhfladen. War etwa alles nur ein Zufall? Eine einmalige Klanganomalie in einem rätselhaften Universum?
Wenige Stunden später, als die Sonne hinter den schneebedeckten Bergspitzen versinkt, ist Rosenblüte mit seinen Nerven am Ende. Sein Traum hat sich innerhalb eines heißen Sommertags in Bergluft aufgelöst. Außer ihm, seiner Frau und den Merchandise-Artikeln ist niemand mehr da. Gewaltige Mückenschwärme schwärzen die Luft. Beim Versuch, sie abzuwehren, geht Rosenblütes Kamera zu Bruch. Ein Smartphone zum Filmen besitzt er nicht.
Als hätten die Kühe genau darauf gewartet, formieren sie sich im Halbkreis in der Mitte der Weide. Gelassen recken sie ihre Hälse in die Höhe. Constanze, die älteste unter ihnen, tritt einige Meter heraus und hebt ihren Schwanz wie einen Taktstock in die Höhe. Ihr Blick wandert für den Bruchteil einer Sekunde zu Rosenblüte, streng und fokussiert, dann wendet sie sich wieder ihren Artgenossinnen zu.
Im selben Moment reißen die anderen Kühe ihre beglockten Hälse ruckartig auf und ab. Nach einem Moment des Einbimmelns ertönt plötzlich Mozarts „Eine Kleine Nachtmusik“. So überraschend frisch und beiläufig neu, als sei sie gerade eben komponiert und nicht seit 200 Jahren erbarmungslos in Grund und Boden gedudelt worden.
Rosenblüte fasst seine Frau bei der Hand, ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Er ist kein Scharlatan. Die Erben Mozarts, es gibt sie wirklich, hoch oben in den Schweizer Alpen. Als Zugabe spielen die Rindviecher allerdings den ersten Satz („Nacht“) aus der Alpensinfonie von Richard Strauss.
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