Die Wahrheit: Von Olfrygt und Fleischgrauen
Auch wenn viele Ängste irrationale Boten aus grauer Vorzeit sind, gibt es Dinge, die der heutige Mensch fürchten sollte – Versicherungen etwa.
D er Deutsche hat zu viele und zu teure Versicherungen, hieß es kürzlich. Wenn er das Geld, das er in seine überflüssigen Versicherungspolicen steckt, einfach beiseite legte und zwar nicht auf eine Bank, sondern unter die Matratze, wo es sicher ist vor Nahrungsmittelwetten, Immobilienblasen und staatlichem Zugriff, hätten wir vermutlich kein Problem mehr in Sachen Altersversorgung.
Aber der Deutsche hat vor manchen Dingen einfach zu viel Angst – und vor anderen wieder gar nicht. Das ist das Seltsame an unserer Spezies und fordert den geschulten Zoologen zu intensiver Forschung heraus. Lieber zahlt der Deutsche 40 Jahre lang monatlich exakt 87,50 Euro für die Zusatzaltersversorgung seines neugeborenen Kindes, damit es auch dann in materieller Sicherheit leben kann, wenn er selbst schon in Frieden als Geraniendünger dient. Ohne zu merken, dass er damit 42.000 Euro aufwendet, um seinem Kind für geschätzte 20 Jahre 100 Euro im Monat mehr Rente zu garantieren. Dieses Kind hätte aber 75 Euro pro Monat mehr, wenn es die Kohle einfach unter der Matratze gefunden und sie sauber in monatliche Häufchen für zwanzig Jahre aufgeschichtet hätte.
Wer für seine Brut Vorsorge zu treffen beabsichtigt, tut also gut daran, keine Versicherungen abzuschließen und kein Bankkonto zu eröffnen. Zinsen gibt es auf absehbare Zeit sowieso nicht und für die Gewinne der Versicherungen zahlt auch irgendwer, weil die Summe von Energie und Masse im Universum seit Einstein immer gleich bleibt.
Der Sparstrumpf ist eine prächtige Alternative
Der gute alte Hort, die Schatzkiste oder der Sparstrumpf sind prächtige und wirksame Alternativen. Selbst Uli Hoeneß wäre niemand auf die Schliche gekommen, wenn er seine sauer erschlichene Kohle daheim in die Socken … Gut, so viele Socken hat selbst Hoeneß nicht. Aber der Deutsche hat zu viel Angst vor der Zukunft und Angst, dass an sein Geld zu Hause irgendwer drangeht, obwohl da gar keiner ist. Keine Angst dagegen hat er vor Banken und Versicherungen, die tatsächlich auf seine Kohle scharf sind.
Angst ist irrational, sagt der Psychologe. Ein fragmentarisches Überbleibsel aus uralter Zeit, ein Reflex, der seiner Ursache beraubt wurde. Weil man aber irgendwo hin muss mit dem vorgesehenen Angstpotenzial, hat sich die Evolution was Tolles einfallen lassen. Der Mensch fürchtet sich heute vor allem vor Dingen, die ihm nicht gefährlich werden können. Das ist praktisch, weil es niemanden stört. Außerdem kann man eine Menge Geld damit verdienen – wenn man eine Versicherung ist.
Vielleicht wird es Zeit für einen Paradigmenwechsel. Fangen wir an, uns vor den richtig schlimmen Sachen zu gruseln! Entwickeln wir eine ausgeprägte Versicherungsphobie! Eine Facebookparanoia. Riesterangst. Automobilfurcht. Fressbammel. Fleischgrauen. Der Wikinger hat es uns vorgemacht. Er allerdings hatte nur vor einer Sache Angst. Vor dem schlimmsten Schicksal von allen Schicksalen, der Bierknappheit. „Olfrygt“ nannte er das – „Bierfurcht“. Und hat damit die ganze Welt erobert. Weitgehend unversichert übrigens.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus