Die Wahrheit: Pflichtfach Pfeifen
Wenn einem Wortschmied am ebenso tristen wie leuchtenden Adventssonntag jeder Sinn für die Sprache verlorengeht, hilft nur eins: El Silbo.
A m Donnerstag vorm ersten Advent geriet Stefan K. in eine Wirrnis, deren Ablauf sehr simpel zu entschlüsseln war. Seine Einfaltspinselei war aber nur teils dem Umstand geschuldet, dass er sich zum Mittagessen zwei Gläser vom „Primitivo“-Wein gegönnt hatte. Ein lächerliches Quantum im Vergleich zu dem des Regisseurs Lars von Trier, der kürzlich gebeichtet hatte, früher täglich eine Flasche Wodka geleert zu haben.
Stefan K. hatte bis Samstag einen Auftrag zu erledigen. Für den Geschäftsführer einer Computer-Service-Firma sollte er eine Jahresendrede schreiben. Statt sie im erwünschten heiter-besinnlichen Tonfall samt munterer Ironie auszuarbeiten, hatte Stefan K. bislang nichts zustande gebracht. Um das Klischee zu bemühen: K. starrte auf das weiße Papier, und das keifte grinsend zurück.
Der Geist im Ghostwriter war erloschen. Was K. groteskerweise irritierte, weil es ihm zuvor nicht aufgefallen war: der erste Advent, dem die Vorfreude samt Lichterglanz und festlichem Frohlocken innewohnt, lag heuer im Trauermonat November. Die vorgebliche Doppeldeutigkeit dieses Sonntags lähmte ihn.
Per Elektropost schilderte er einer Freundin seine Stimmung, erwähnte schließlich, er finde „diese Ambivalenz“ so seltsam. Sie schrieb zurück, sie weile gerade auf La Gomera. Die herrliche Sonne genießend halte sie nicht diese vermeintliche Zwiespältigkeit für seltsam, sondern dass sie ihn in Konfusion gestürzt habe. Stefan K. schwieg. Hatte sich ja blind verrannt in diesen trüben Tagen.
Eine Sprache mit eigenen Lauten
Gegen Abend schickte die Freundin eine zweite Post, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, auf solche, die Sprache und Sprechen und Schreiben aus einem ungewohnten Blickwinkel eröffneten. Sie umriss die Pfeifsprache namens Silbo, welche die Ureinwohner der Kanarischen Inseln, die Guanchen, erschaffen hatten und die sich bis heute auf Gomera erhalten habe, allerdings nicht mehr in der ursprünglichen Sprache, sondern auf Spanisch.
Stefan K. summte ein „Aha“ und las weiter: Bei El Silbo handele es sich nicht um Morsesignale, sondern um eine Sprache mit eigenen Lauten, artikuliert als Pfiffe bestimmter Tonhöhe und -länge. Trotz der einfachen „Wortwahl“ könne man ganze Unterhaltungen hinweg über die Schluchten und Täler pfeifen. Schon dem Widerstand gegen die spanischen Eroberer nützte das Pfeifen, noch im Bürgerkrieg verwendeten beide Seiten zur Berichterstattung an der Front die Pfeifsprache. Es sei die „lauteste Kommunikationsform“, die ohne Hilfsmittel auskommt.
Ein weiteres „Aha“ ließ Stefan K. nun laut vernehmen und erfuhr zuletzt, die Unesco habe El Silbo 1982 auf die Liste der zu schützenden Weltkulturgüter gesetzt. Noch besser: Nach einem Beschluss des Bildungsministeriums kann ab dem Schuljahr 2014/15 El Silbo als Pflichtfach unterrichtet werden.
Dank diesem – ähem – pfiffigen Umweg genas K. und bastelte den Scheiß, den er abzuliefern hatte, flugs zusammen, bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt.
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