Die Turk-Stream-Pipeline: Wiederbelebte Ausweichlösung
Ein wichtiger Punkt der russisch-türkischen Vereinbarungen betrifft den Energiebereich. Doch die Pipeline-Pläne wirken überholt.
In St. Petersburg waren am Vortag Absichtserklärungen im Dutzend verkündet worden. Die Aufhebung des Importstopps für türkisches Obst und Gemüse soll bis Jahresende verfügt werden. Visabeschränkungen für Türken und das Arbeitsverbot für türkische Baufirmen sollen aufgehoben werden. Pauschaltouristen könnten den Altweibersommer wieder an der türkischen Riviera verbringen, Charterflüge die Urlaubsziele wieder anlaufen. Vollmundige Absichtserklärungen, die Präsident Putin jedoch mit dem Vorbehalt versah, die Wiederbelebung der Beziehungen ließe sich nicht im Hauruckverfahren vollziehen.
Der türkische Präsident hatte es eiliger. Im Energiebereich wartete er mit dem Vorschlag auf, das Projekt der Turk-Stream-Gaspipeline wiederzubeleben. Fraglich, ob es dazu kommen wird. Turk Stream war nämlich bereits eine Ausweichlösung für die eingestellte South-Stream-Trasse, die durch das Schwarze Meer nach Bulgarien führen und ebenfalls die Ukraine als Transitland umgehen sollte. Das Vorhaben scheiterte jedoch am Einspruch der EU, das Gazproms Doppelfunktion als Netzbetreiber und Gaslieferant monierte. 2014 sprang die Türkei dafür in die Bresche.
Das Projekt war unterdessen schon vor dem russisch-türkischen Zerwürfnis ins Stocken geraten – also vor dem November 2015, als die Türkei einen russischen Militärjet im syrisch-türkischen Grenzgebiet abschoss. Ankara verlangte nämlich Preisnachlässe, die Gazprom nicht einräumen wollte. „Fundamentale Widersprüche“ hätten sich bereits im Sommer 2015 aufgetan, meinte der russische Ex-Energieminister Wladimir Milow in der Zeitung RBK. Unklar ist auch, wie das Gas von der türkisch-griechischen Grenze zu den europäischen Verbrauchern gelangen sollte.
Im Zweifelsfall doch die Nordverbindung
Der Bau einer Süd-Nord-Pipeline in den Westbalkan und nach Italien ist dafür nämlich nötig. Allerdings hatte Italien in der Zwischenzeit den Verbrauch russischen Gases durch Importe aus Nordafrika und Norwegen bereits auf 43 Prozent heruntergefahren. Das war auch einer der Gründe, warum das Turk-Stream-Projekt von vier auf zwei Stränge runtergekürzt wurde. Seit Kurzem erwächst der südlichen Versorgungstrasse Konkurrenz durch die Planung der zweiten Ostseepipeline „Nordstream 2“. Im Unterschied zur Türkei zahle Deutschland, ohne viel zu feilschen, sagte Milow. Daraus lässt sich entnehmen, dass Gazprom im Zweifel die Nordverbindung vorziehen würde. Am liebsten wäre es den Russen jedoch, zum kostengünstigeren South- Stream-Vorhaben an die bulgarische Küste zurückkehren.
Vor dem Hintergrund sinkender Exporteinnahmen aus dem Gasverkauf und dem Überangebot an Transportmöglichkeiten haftet der Geopolitik mit Röhren etwas Archaisches an. Den Europäern dürfte nicht verborgen geblieben sein, dass auch die Abnahme im postsowjetischen Raum stagniert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste