Die Türkei vor dem Referendum: Retter ohne Nation
Recep Tayyip Erdoğans Allmachtspläne waren in der Türkei nie populär. Warum der Präsident so aufs Ausland schielt.
Er hat nicht nur seine Kunden befragt, sondern auch die des Gemüsehändlers nebenan, des Bäckers gegenüber und war in dem kleinen Restaurant an der Ecke. Die Ergebnisse der einzelnen Befragungsorte hat Murat gesondert aufgelistet. Sie schwanken, aber alle kommen doch zu demselben Ergebnis: Die Neinsager liegen knapp vorn.
Glaubt man den Umfrageergebnissen von fast allen unabhängigen Instituten, sind die Zahlen von Murat sogar repräsentativ für die Türkei. Die Demoskopen sehen die Neinsager vorne, manche sogar mit einem Vorsprung von 8 bis 9 Prozent. Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die Führung seiner AKP wissen das natürlich und sind entsprechend nervös.
Ein türkischer Kollege, der wie fast alle Gesprächspartner derzeit namentlich nicht genannt werden will, weist auf einen fundamentalen Unterschied zwischen früheren Wahlkämpfen und der jetzigen Referendumskampagne hin: „Erdoğan“, sagt er, „hat bislang immer die Themen gesetzt, und die Opposition lief dem hinterher. Dieses Mal ist es anders. Erdoğan hat keine eigene Botschaft, sondern er beschimpft die Opposition als Terroristen, statt positiv für das Referendum zu werben.“
Damit bringt er das Dilemma des Präsidenten auf den Punkt. Die Verfassungsänderung, die ihm nahezu unbeschränkte Machtbefugnisse bringen soll, ist einfach nicht populär. Jahrelang hat Erdoğan für seine Alleinherrschaft geworben, und jahrelang hat sich gezeigt, dass die Mehrheit der türkischen Wähler und Wählerinnen sie nicht will. Erst der gescheiterte Putschversuch hat noch einmal die Situation für einen letzten Anlauf geschaffen; seit Juli vorigen Jahres kann sich Erdoğan als „Retter der Nation“ präsentieren. Ohne den Putschversuch wäre die notwendige Verfassungsänderung wohl schon am Widerstand in der eigenen Partei gescheitert. Mit Ausrufung des Ausnahmezustands regiert Erdoğan per Dekret und lässt keinen Widerspruch mehr zu. Jeder AKP-Funktionär, der seine Alleinherrschaft öffentlich angezweifelt hätte, wäre sofort als „Gülen-Sympathisant“ denunziert und verhaftet worden.
Flüsterpropaganda
Trotzdem kann sich Erdoğan der AKP nicht sicher sein. Ihre Abgeordneten wurden in der entscheidenden Abstimmung im Parlament verfassungswidrig gezwungen, offen zu votieren, doch das Referendum bietet nun Gelegenheit, sich zu revanchieren. Insider munkeln, auch ehemalige Gründungsmitglieder der AKP, die Erdoğan in den vergangenen Jahren alle aus dem Weg geräumt hat, würben nun per Flüsterpropaganda für ein Nein. Besonders in AKP-Hochburgen könnte das zu einer bösen Überraschung für Erdoğan führen.
Es ist das Wochenende des Martin Schulz: Am Sonntag wird er zum Kanzlerkandidaten und Vorsitzenden der Partei gekürt, die so gut dasteht wie lange nicht mehr. Welche Substanz dieser Höhenrausch hat, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 18./19. März. Außerdem: Im sächsischen Freital wird der rechten Terrorgruppe der Prozess gemacht. Eine Gerichtsreportage. Und: Warum fängt Gleichberechtigung in der Hose an? Das alles – am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Während der Widerspruch innerhalb der AKP nur im Geheimen zum Tragen kommt, versucht die Opposition, eine öffentliche Nein-Kampagne auf die Beine zu stellen. Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Die kurdische linke HDP ist in ihrer Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt, nachdem Erdoğan die Parteiführung bereits im Oktober 2016 ins Gefängnis werfen ließ. Während die HDP draußen für ein Nein wirbt, müssen sich die beiden Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ in Dutzenden Prozessen den immer gleichen Vorwürfen angeblicher Terrorpropaganda, der Mitgliedschaft in einer Terrorvereinigung oder zumindest der Präsidentenbeleidigung stellen. Beide sind in erster Instanz schon zu etlichen Jahrzehnten Haft verurteilt worden, Yügsekdağ wurde von einem Gericht sogar ihre Parteimitgliedschaft aberkannt.
Doch auch für die sozialdemokratische kemalistische CHP und ihren Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu ist es nicht leicht. Während Erdoğan sich scheinheilig über die Behinderung seines Wahlkampfes in Europa beklagt, wird in der Türkei die Opposition mit allen Mitteln des Staates bekämpft. Demonstrationen sind verboten, Jugendliche, die Nein-Plakate kleben, werden verhaftet, Fernsehmoderatoren, die Sympathien für ein Nein erkennen lassen, gefeuert, und selbst Sänger, die populäre Songs in Nein-Lieder umdichten, müssen sich auf den Staatsanwalt gefasst machen. Die Hysterie geht so weit, dass die Antialkoholikervereinigung Plakate, auf denen für ein Hayır (Nein) zum Alkoholgenuss geworben wurde, wieder abhängen musste, damit womöglich nicht noch eine Wählerin oder ein Wähler auf falsche Gedanken kommt.
Trotzdem gibt es eine breite Bürgerbewegung für das Nein. Ihre Hoffnung, am 16. April Erdoğans Machtbestrebungen Einhalt zu gebieten, ist in dieser Woche allerdings kleiner geworden. Der Streit mit den Niederlanden eskalierte, Familienministerin Kaya wurde in Rotterdam gestoppt, die Stadt hatte zuvor den Auftritt von Außenminister Çavuşoğlu bei einer Kundgebung untersagt. Die „Terrornacht“ von Rotterdam, wie die Vorgänge im AKP-Lager getauft wurden, könnte zum game changer werden, befürchten CHP-Chef Kılıçdaroğlu und andere.
Die angeblichen Angriffe in Europa könnten Erdoğan die entscheidenden 2 bis 3 Prozent aus dem nationalistischen Lager bringen, wie die Kolumnistin Ahu Özyurt unlängst schrieb. Die Auseinandersetzung mit Europa gibt Erdoğan die Gelegenheit, „seine Lieblingsrolle als Opfer“ neu aufzulegen, sagt Özyurt. Doch selbst das, hofft Meral Akşener, ehemalige Politikerin der rechtsnationalistischen MHP, die jetzt die Nein-Kampagne mit anführt, wird Erdoğan nichts mehr nutzen. „Die Bevölkerung, vor allem in den kleineren Städten, ist verzweifelt. Sie interessiert sich nicht für Holland, sondern für die hohe Arbeitslosigkeit und ständig steigenden Preise.“
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