: Die Sprache der Sterblichkeit
Karl-Heinz Ott schreibt sich mit seinem Romandebüt „Ins Offene“ in die Literatur der letzten Dinge und ins Genre der oberschwäbischen Heimatliteratur hinein ■ Von Michael Braun
„Philosophieren heißt sterben lernen“, hat der römische Philosoph Seneca gelehrt und damit unterstellt, daß es tröstliche Erkenntnisse gibt, die uns mit dem empörenden Skandal des Todes versöhnen. Aber sterben, das zeigt die Geschichte der Menschheit, kann man nicht lernen, und keine philosophische Erleuchtung kann uns über das grausame Wissen um das eigene Ausgelöschtwerden hinwegtrösten. Dennoch sind es immer wieder die Ekstasen der Schrift, die Meditationen der Literatur und der Philosophie, die der Todesdrohung Widerstand leisten und noch einmal einen Aufschub erwirken.
Fast schon zum Modell geworden ist dabei Peter Handkes Erzählung „Wunschloses Unglück“, in der er die langsame Selbstauslöschung und den Freitod seiner Mutter zu begreifen versucht. Auch in den Mutter-Büchern der neunziger Jahre, in den Romanen von Ludwig Fels („Der Himmel war eine große Gegenwart“), Paul Kersten („Die Helligkeit der Träume“) und Hermann Kinder („Um Leben und Tod“), spiegelt sich die gewaltige existentielle Erschütterung der Nachgeborenen nach dem Tod der Mutter.
In der langen Reihe von zeitgenössischen Romanen „um Leben und Tod“ der eigenen Mutter hat nun Karl-Heinz Ott das wohl konzentrierteste, stillste und melancholischste Buch vorgelegt. Es ist ein literarisches Debüt, das sich nicht nur einschreibt in die Literaturgeschichte der letzten Dinge, sondern das auch unübersehbar an das Genre des oberschwäbischen Heimatromans anknüpft, wie es in jüngerer Zeit von Martin Walser und Arnold Stadler konturiert worden ist. Ausgangspunkt von Otts literarischer Erinnerungsarbeit ist der Augenblick, da der Erzähler mit der Meldung vom nahe bevorstehenden Tod der Mutter konfrontiert wird. Diese Nachricht läßt alle Lebensroutine, die sich der in Haßliebe an seine Mutter gebundene Sohn mühsam errungen hatte, sofort zusammenbrechen. Es ist indes nicht nur lähmender Schrecken, der von seiner Seele Besitz ergreift. Der Schock über den unabwendbaren Tod der Mutter verbindet sich mit der Sehnsucht des Überlebenden nach einer heilenden Lebenszäsur, mit seiner Hoffnung auf eine neue „Friedenszeit“.
Geboren in der oberschwäbischen Provinz nahe dem Benediktinerkloster Blaubeuren, hat der Muttersohn alle Beklemmungen, Traumata und Tabus einer streng katholischen Kindheit durchlitten, aus deren Bannkreis sich auch der Erwachsene nie vollständig lösen kann. Es ist eine Kindheit der schauerlich schönen Heiligenlegenden und Gruselgeschichten vom rächenden Gott, der seine Untertanen zur ewigen Demut anhält und sie bei sündigen Zuwiderhandlungen mit der Strafe ewiger Verdammnis bedroht. Eingeschlossen in diese enge Welt der Verbote und früh eingepflanzten Schuldgefühle, reagiert das unehelich geborene Außenseiterkind mit Atemnot und chronischem Asthma. In der scheinbar stillstehenden Zeit des bäuerlichen Dorflebens werden dem Heranwachsenden die moralischen Imperative der Erwachsenen wie Naturgesetze implantiert, so daß ihm außerhalb des Dorfes jede Realitätstüchtigkeit abgeht. „Draußen in der Welt fehlten uns alle Anhaltspunkte“, heißt es einmal, und es ist der Pfarrer, der mit seinen Predigten dafür sorgt, daß die Kirche auch geistig im Dorf bleibt und die Gläubigen in ewiger Unmündigkeit verharren.
Zwar sind all diese Motive wunschlosen Unglücks katholischer Provenienz aus vielen anderen Heimatromanen ähnlichen Zuschnitts vertraut. Aber es ist die konzentrierte Genauigkeit und ruhige Gefaßtheit dieser Erinnerungsprosa, die für dieses Buch einnimmt. Ott scheut sich nicht, in kräftigen und leuchtenden Farben, fast in der Manier eines altmodischen Landschafts- und Heimatmalers, Bilder seiner Kindheit zu einem poetischen Panorama seines Lebens auszupinseln. Geduldig inventarisiert der Erzähler die kleinen und großen Schrecken seiner Kinderzeit und wird dabei von einer überwältigenden Sehnsucht nach jenem Heimatgefühl ergriffen, das mit der Kindheit für immer verloren ist.
Zwar wird immer wieder die Enge, der Verfall, „das Dumpfe“ oder „das Klobige“ der Herkunftswelt beschworen, gleichzeitig aber idealische „Wunschbilder von Heimat“ imaginiert, die allen Kindheitsschrecken überstrahlen. Schon der an Hölderlin („Komm! Ins Offene, Freund!“) erinnernde Romantitel verweist auf die Zukunftsgerichtetheit dieses Buches, auf eine utopische Energie, die allen Todesschrecken bannen soll. Tatsächlich ist es Ott gelungen, jene schöne Balance zwischen melancholischer Todeserwartung und romantischer Ursprungssehnsucht zu halten, wie sie nicht erst seit Peter Handke für eine heilsuchende Literatur des Weltvertrauens charakteristisch ist.
Gewiß, manchmal ergeht sich der Erzähler in allzu buchhalterischen Aufzählungen und biederen Reihungen dessen, was sich mit dem Heimatbegriff assoziieren läßt, und der Autor, der auch als Dramaturg und Kritiker arbeitet, gerät spürbar in Versuchung, seine Erzähl-Bilder allzu feierlich zu kommentieren. Und doch ist es gerade der eigentümliche Ton der Innigkeit, der dieser Prosa ihr charakteristisches Kolorit und auch ihre Glaubwürdigkeit gibt. Man folgt gerne den Pfaden dieses Buches „Ins Offene“, rührt es doch an die Fundamente unserer Existenz: Verstrickt in die „Kampfhandlungen“ des Lebens, erfährt das Roman-Ich die quälende Übermacht und den Triumph des Todes. Nur wenn, wie hier, die Literatur die Sprache der Sterblichkeit spricht, hat sie auch Anteil am Drama des Lebens.
Karl-Heinz Ott: „Ins Offene“. Roman. Residenz Verlag, Salzburg 1998, 140 Seiten, 34DM
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