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Die Schule fürs Leben

Die Ferien sind fast überall zu Ende: Das neue Schuljahr geht los. Und der Ärger. Denn zufrieden sind weder Eltern, Lehrer noch Schüler. Das mag beschäftigt sich mit der Krise der Schule und diskutiert Reformvorschläge

von ANNETTE JENSEN

Der Putz bröselt. Für neue Bücher ist auch kein Geld da. Und noch immer ist die Mehrheit der deutschen Schulen vom Internet abgeschnitten. Doch die finanzielle Misere ist nur ein Symptom einer noch tiefer greifenden Krise des deutschen Schulsystems. Seit der letzten großen Reform, bei der Kaiser Wilhelm viele Altphilologen gegen Naturwissenschaftler austauschte, hat sich die Grundstruktur von Schule kaum geändert. „Seither wurde immer nur draufgesattelt“, beschreibt Hartmut Holzapfel, ehemaliger Kultusminister von Hessen (SPD) die Situation. Friedens- und Sexualerziehung, Ökologie, Toleranz, Teamfähigkeit, Umgang mit neuen Medien – die Lehrpläne strotzen nur so vor Lernzielen. Zugleich wird immer deutlicher, dass die Schule all diesen Ansprüchen nicht gerecht werden kann.

Die Schuld an der Misere wird reihum gereicht. Eltern mosern über eine Lehrerschaft, die als unengagiert und vergreist gilt. Zwar riefen zwölf Wochen Ferien im Jahr seit je Neid und den Vorwurf von Faulheit hervor. Doch das Image der Pädagogen war in den Siebzigerjahren insgesamt noch positiv. Heute ist ihr gesellschaftliches Ansehen dagegen auf das Niveau von Atomphysikern abgesackt, wie eine Allensbachstudie belegt.

Die Lehrer geben den Vorwurf zurück und beschweren sich über unverschämte, gewaltbereite Schüler, die von zu Hause weder Sozialverhalten noch Konzentrationsfähigkeit mitbrächten. Viele Lehrer leiden am Burnoutsyndrom, die Rate der Frühpensionierungen aufgrund von Berufsunfähigkeit ist so hoch wie in fast keinem anderen Beruf. Untersuchungen ergeben, dass Klassenlehrer mit klausurintensiven Fächern wie Deutsch fünfzig Wochenstunden arbeiten – Ferien inklusive. Sport- und Kunstlehrer kommen meist mit der Tarifarbeitszeit aus.

Die Wirtschaft wiederum beklagt das niedrige Leistungsniveau der Schulabgänger und verweist auf internationale Vergleiche wie die 1997 veröffentlichte Timsstudie. Dabei hatten deutsche Achtklässler in Mathematik und Naturwissenschaften nur einen Mittelfeldplatz erreicht.

Und die Jugendlichen selbst: Sie erleben Schule häufig als eine Veranstaltung, die mit dem realen Leben denkbar wenig zu tun hat und nur äußerst unzureichend auf ihre Zukunft vorbereitet. Wer kann, sucht Lernerfahrungen außerhalb des Klassenzimmers.

Die gegenwärtige Diskussion vermittelt häufig den Eindruck, dass die Rückständigkeit unseres Schulsystems vor allem am Fehlen des Laptops für jeden Schüler liegt. Zwar sind die Berührungsängste vieler Lehrer gegenüber dem Computer und die mangelhafte Ausstattung der Schulen ein großes Ärgernis. Doch es ist eine Illusion, anzunehmen, dass der Internetzugang automatisch für einen zeitgemäßen Unterricht sorgen würde. Das Problem liegt tiefer und ist kein technisches.

Schule scheitert heute vor allem daran, dass hier gelernt und gelöst werden soll, was die Gesellschaft anderswo nicht schafft. Lehrer aber sind weder interdisziplinäre Fachleute noch Sozialarbeiter. Und der längste Teil ihrer Ausbildung bereitet sie sogar ausgesprochen schlecht auf den Umgang mit Schülern vor. Ihre Perspektive bei der Studienwahl ist meistens eher die Leidenschaft für ein Studienfach als die Lust auf Kinder und Jugendliche. In vielen Bundesländern findet der erste Kontakt zu Schülern sogar erst nach dem ersten Staatsexamen statt, wenn eine Berufsalternative kaum noch möglich ist.

Darüber hinaus ist es inzwischen völlig illusorisch, Allgemeinbildung mit Hilfe eines Kanons vermitteln zu wollen. Niemand wird bestreiten, dass Lesen, Rechnen und Schreiben auch künftig zur Basisausstattung jedes Menschen gehören sollten. Hinzu kommt mit Sicherheit das Wissen, wie man einen Computer bedient. Doch jenseits davon werden die Menschen die Fähigkeit brauchen, sich notwendige Informationen zu beschaffen – und angemessen zu beurteilen. Schule muss auf den Umgang mit Problemen und Themen vorbereiten, die heute noch niemand kennt. Und deshalb muss die „Schule der Zukunft danach fragen [. . .], welches individuelle und besondere Potenzial der oder die Einzelne mitbringt und wie dieses Potenzial bestmöglich entwickelt und gefördert werden kann“, schreiben Dagmar Deckstein und Peter Felixberger in ihrem dieser Tage erscheinenden Buch „Arbeit neu denken“, in dem erstmals die Folgen der New Economy für Deutschland beleuchtet werden. Die beiden Autoren outen Schulen und Universitäten neben Parteien und Gewerkschaften als zentrale Bremsklötze in Deutschland.

Der Anspruch, den Einzelnen zum Ausgangspunkt der Pädagogik zu machen, verändert die Rolle des Lehrers fundamental. Statt vorgefertigtes, für alle gleiches Wissen zu vermitteln, kommt es darauf an, die Perspektive umzudrehen und den jeweiligen Schüler zum Maßstab zu machen. Nicht mehr Lehren ist unter solchen Vorzeichen die Hauptaufgabe, sondern die Anleitung zum Lernen, zum Tüfteln und zum Suchen eigener Wege.

Dafür ist der heutige Rahmen der Schule allerdings denkbar ungeeignet. „Zugespitzt formuliert, könnte man sagen, dass die Schule nach dem Fließbandprinzip organisiert ist – vielleicht ist sie gar die letzte große Institution, die nahezu ungebrochen einer tayloristischen Leitidee folgt“, schreibt Hartmut Holzapfel. Während in der übrigen Lebenswelt Massenproduktion zum Auslaufmodell geworden ist, orientiert sich schon die äußere Struktur der Schule noch ganz am Industriezeitalter.

Im Regelfall findet Unterricht im Dreiviertelstundentakt statt, und der Stundenplan ist in allen Landesteilen gleich zusammengesetzt. Das Interesse von Schülern beeinflusst den Ablauf ebenso wenig wie die Einschätzung des Lehrers, was für die gerade vor ihm sitzende Gruppe von Kindern jetzt sinnvoll ist. Nur in wenigen Bundesländern haben die Schulen überhaupt Einfluss auf die Personalauswahl; normalerweise schickt das Schulamt die Lehrer nach rein bürokratischen Kriterien in das eine oder andere Klassenzimmer. Individuelle Lernerfahrungen sind in einer solchen Struktur äußerst schwierig zu organisieren.

Schule darf nicht mehr nur Sache des Staates bleiben, sondern muss zur Sache der Gesellschaft werden“, fordert Holzapfel. Schüler, Eltern, Unternehmen, Vereine, die Kommune – alle sollten ihre Erwartungen an die Schule äußern, aber zugleich sagen, was sie selbst zum Erreichen dieses Ziels beisteuern werden.

Der Versuch, einheitliche Strukturen aufzubrechen und eine Bürgergesellschaft für die Schule mitverantwortlich zu machen, ruft allerdings das Misstrauen ganz unterschiedlicher Seiten hervor. Altlinke fürchten, dass Bildung erneut zum Privileg von wenigen wird: Wo es kein engagiertes Umfeld gibt, gucken Schüler und Lehrer gemeinsam in die Röhre, während an anderen Stellen gut ausgestattete Eliteschulen entstehen. Auch Gewerkschafter wollen am alten System festhalten. Zum einen gehen sie nach wie vor davon aus, dass ein – zumindestens formal – gleicher Input für alle Schüler am ehesten Chancengleichheit garantiert. Zudem ist eine wenig differenzierte Lehrerschaft einfacher zu organisieren und stärkt die Verhandlungsmacht der Gewerkschaft.

Konservativen Kreisen ist dagegen vor allem am Erhalt eines einheitlichen Bildungskanons gelegen, der ihr traditionelles Wissen nach wie vor hoch bewertet. Und auch viele Lehrer verteidigen ihr Monopol auf Wissensvermittlung. Dahinter steckt wohl auch die Angst vor Kontrolle durch andere Erwachsene. Um sie in den Lernprozess einbeziehen zu können, müssten die Türen der Klassenzimmer transparenter werden, was viele Pädagogen wohl eher als zusätzlichen Druck denn als Entlastung empfinden.

Dass die gegenwärtige Situation indessen gleich schlechte Chancen für alle bietet, ist eine Illusion. Betuchte Eltern schicken ihre Kinder schon jetzt auf Privatschulen und später auf ausländische Universitäten. Und die Kinder engagierter Eltern müssen trotz staatlicher Sparmaßnahmen auch heute nicht in heruntergekommenen Klassenzimmern hocken, weil ihre Mütter und Väter die Farbe spendieren und entweder selbst auf die Leiter klettern oder einen Maler engagieren.

Auf genau dieser Erfahrung hat die neuseeländische Regierung das Finanzierungsprogramm für Schulen aufgebaut. Einrichtungen in schwierigem sozialem Umfeld bekommen mehr Geld als Schulen in reichen Stadtteilen. So haben sich die Unterschiede dort stärker nivelliert als bei Anwendung des Gießkannenprinzips.

In Deutschland dagegen differenziert der Staat nur nach Schularten. Für einen Gymnasiasten der achten Jahrgangsstufe bezahlt die öffentliche Hand etwa 25 bis 30 Prozent mehr als für einen gleichaltrigen Hauptschüler – was allerdings vor allem an der höheren Besoldung und den besseren Aufstiegschancen der Studienräte liegt. Im internationalen Vergleich relativ schlecht ausgestattet sind aber vor allem die Grundschulen, wie eine Untersuchung der OECD belegt. Während die meisten Länder eher bei den Schulanfängern auf kleine Gruppen achten, ist es in Deutschland genau umgekehrt.

All den widrigen Rahmenbedingungen zum Trotz versuchen engagierte Lehrer schon heute, neue Wege zu gehen. In Grundschulen gibt es bereits einen relativen Variantenreichtum. Und die Wiesbadener Helene-Lange-Schule ersetzt den Religionsunterricht einer Jahrgangsstufe dadurch, dass die Schüler einen Behinderten oder Alten betreuen und darüber Tagebuch führen – mit erstaunlichen Folgen für ihre Persönlichkeitsentwicklung. In der Berliner Freiligrathschule sind regelmäßig Leute aus verschiedensten Lebensbereichen, vom Künstler bis zum Programmierer, zu Besuch. Und in der Steinwald-Gesamtschule im hessischen Neukirchen arbeiten die Lehrer in fächerübergreifenden Teams.

Während die deutschen Strukturen solche Innovationen eher hindern als fördern, orientiert sich das niederländische Schulsystem bereits stark an den Erfordernissen des postindustriellen Zeitalters. Nicht ein uniformer Lehrplan soll für Chancengleichheit sorgen, vielmehr werben die Schulen für ihr je eigenes Profil, definieren Ziele und veröffentlichen ihre Ergebnisse. Wie und wann die Kinder bestimmte Fähigkeiten erwerben, liegt in der Verantwortung der einzelnen Schule.

Doch nur wenn sie am Schluss öffentlich nachweist, dass die Schüler tatsächlich etwas können, werden genügend Eltern bereit sein, ihre Töchter und Söhne dorthin zu schicken. Der Lehrer freilich sitzt in solch einem System nicht mehr automatisch bis zu seiner Pensionierung am selben Pult. Und bei mangelnder Nachfrage verschwindet möglicherweise sogar sein Arbeitgeber von der Bildfläche – ganz wie im richtigen Leben.

ANNETTE JENSEN, 38, ehemalige taz-Redakteurin und freie Journalistin in Berlin, ist froh, seit neunzehn Jahren nicht mehr zur Schule gehen zu müssen. Gern erinnert sie sich an ihren Deutsch- und Philosophielehrer Wolfgang Böth, der ihr neue Welten eröffnete. Damit war er aber leider die Ausnahme

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