■ Die SPD muß auf ihrem Weg zum „Blairismus-Schröderismus“ vor allem eine Frage beantworten: Mehr oder weniger Regierung?: Die Gunst der Stunde
Wäre der Anlaß – das SPD-Debakel bei der Europawahl – nicht der unangemessene, man müßte sagen: Gerhard Schröder wird die „Gunst der Stunde“ nutzen. Er wird seine Partei auf blairistischen Kurs prügeln, es wird, um das in den Worten von Wolfgang Clement zu sagen, „ein neues Godesberg geben“. Die Strategiedebatte in der SPD ist eröffnet, die Lebensdauer des gültigen „Berliner Programms“ ist endenwollend.
Programmdiskussionen großer Volksparteien sind vertrackt: Was hier zu Papier gebracht wird, hat selten Einfluß auf die Tagespolitik einer Regierungspartei. Eher gilt es, nach Innen Identitäten zu stiften – und das heißt auch: innere Machtsverschiebungen zu sanktionieren – und nach Außen Realitätsmacht zu signalisieren, also die permanente Er-Neu-Erungsfähigkeit zu annoncieren. Insofern kommt programmatischen Diskussionen im Setting symbolischer Politik eine herausragende Rolle zu. Und doch sind Programmdebatten nicht gänzlich ohne inhaltliches Surplus. Besonders in Krisenmomenten – und eine Richtungsentscheidung einer Traditionspartei ist immer ein Krisenmoment – sind sie ein Lackmustest darüber, wie es eine Partei mit einer oder mehreren politischen Kernfragen hält, in denen sie Farbe zu bekennen hat. Diese Frage lautet im Falle der anstehenden SPD-Debatte, die sich im Kontext der globalen Diskussionen über einen „Dritten Weg“ bewegen wird: „Was heißt Regierung im Zeitalter der Globalisierung?“
Das Problem der Adepten des „Dritten Weges“ ist, daß diese Frage in zwei Richtungen zielt – und die je verschiedenen Antworten lassen sich nicht leicht in Deckung bringen. Nach Innen will die Regierung weniger regeln, weniger selbst tun, sondern unterstützen. Dies klingt im Schröderschen Bild vom „ermunternden Staat“ an. Das neue Staatsverständnis, das daraus entspringt, ist nicht mehr das der staatlichen Regulierung der Marktökonomie, sondern das einer viel mittelbareren Intervention. Politik nimmt sich nicht mehr so wichtig. Ihr geht es darum, so Gerhard Schröder, „gemeinsam mit den Akteuren Problemlösungen zu entwickeln, diese in die Gesellschaft hineinzukommunizieren, damit sich die Gesellschaft über Ziele einig wird, welche die Politik dann wiederum umsetzt.“
Die Rede ist also von einer zunehmend subtilen Intervention in eine zunehmend „vage“, „ambivalente“ Realität. Ein Konzept, das ohne Zweifel den sich ausdifferenzierenden Interessenslagen und zerklüfteten Identitäten in modernen Gesellschaften angemessen ist. Bloß wird dieses Konzept in jenem Moment fruchtlos, in dem nicht die innernationalen Probleme zur Debatte stehen, sondern die Anforderungen im transnationalen Kontext. Dieser Umstand ist zuletzt auch dem Chefredakteur der Zeit, Roger de Weck, aufgefallen und hat diesen, obwohl er wahrlich kein Traditionssozi ist, zu einer geharnischten Kritik am Schröder/Blair-Papier inspiriert. „Was in dem Papier völlig fehlt“, so de Weck, „sind Vorstellungen über die künftige Ordnung der Weltwirtschaft, die sie sich wünschen. (...) Weltwirtschaftsordnung anstelle der heute im wahrsten Wortsinn herrschenden Unordnung, das war doch die Sache von Oskar Lafontaine, die er allerdings äußerst mißlich anpackte.“
Der Kritiker verspürt das Manko, weiß es aber nicht ins letzte zu entschlüsseln: Das Schweigen der Blairisten-Schröderisten in Hinblick auf die Weltwirtschaftsordnung steht in direktem Zusammenhang mit der blumigen Beredsamkeit in innernationalen Angelegenheiten. Denn das Hauptmanko der Theorie des „Dritten Weges“ liegt in der Tatsache begründet, daß sie die Selbstbeschränkung des Politischen ausgerechnet in jenem Augenblick feiert, in dem eine in vieler Hinsicht ambitioniertere Politik vonnöten wäre.
Sie kann eben nicht beides zugleich: Die Markt-Akzeptanz im Inneren zelebrieren, den liberalen Glauben an die Effektivität freier Märkte bestärken und in globaler Perspektive diesen Glauben wieder außer Kraft setzen; im Inneren einer Verschlankung der Regierung das Wort reden, im internationalen Rahmen nach „mehr Regierung“ rufen. Ein Dilemma, das auch den Anhängern jener Reorientierung der Sozialdemokratie, die unter den Label „Third Way“ firmiert, zunehmend unangenehm aufstößt. So mahnt Thomas Meyer, der Chef der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, „es wäre fatal und eine unnötige Konzession an den Liberalismus, die Verbesserung der politischen Regulierung auf transnationaler und zunehmend auch globaler Ebene von vornherein für ein aussichtsloses Projekt zu halten.“
Auch Anthony Giddens, der sich für sein kleines Manifest „Der dritte Weg“ viele böse, herablassende Einwände anhören mußte, schlägt nun in den Antworten auf seine Kritiker neue Töne an. Der „Dritte Weg“, so schrieb er jüngst, halte Ausschau nach „dynamischer Regierung“ anstelle des alten „big government“. Und in einem Interview mit der SPD-nahen Theoriezeitschrift Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte meinte er zuletzt gar, die Globalisierung erfordere „nicht weniger, sondern mehr Regierung“. Regierung – wenn auch der neuen Art.
Global Governmence ohne absehbare „Weltregierung“ in strengem Sinne? Insofern können sich die Instrumente sogar ähneln, die moderne linke Politik im Inneren wie im Äußeren zu entwickeln hat; Instrumente, die eine mehr moderierende als oktroyierende Art von Politik ermöglichen würden. Nur wäre jene Art von Politik, die Regulationen und Standards mehr „vermitteln“ möchte, im Inneren des Nationalstaates eine „schlankere“ als alle bisherige Regierung, im globalen Rahmen aber ein „Mehr“ an globaler Regulierung. Mit einem Wort: Zentral für die zeitgemäße Neuformulierung sozialdemokratischer Politik wird sein, ob es gelingt, die Fragen zu bearbeiten, die Oskar Lafontaine aufgeworfen hat.
Nun spricht wenig dafür, daß ausgerechnet Gerhard Schröder, dessen finaler Sieg über Lafontaine die Geburt der „SPD-Neu“ markiert, in dieser Hinsicht über belanglose Formulierungen hinauszugehen fähig ist. Doch die Bearbeitung dieser Frage entscheidet darüber, ob das neue SPD-Programm zu einem geistlosen Konvolut von Chatch-Wörtern gerät, deren einziger Sinn darin liegt, das „Neue“, „Moderne“, „Pragmatische“ der Sozialdemokratie zu signalisieren, deren „Wirtschaftsfreundlichkeit“ und „Realitätsmächtigkeit“ – oder ob es doch gelingen könnte, ein paar weitere Schritte zur Selbstverständigung einer modernen Linken zu tun. Da aus der Basis und dem Mittelbau der Sozialdemokratie wohl wenig bis nichts an intellektuell fundiertem Widerstand zu erwarten ist, bleibt vielleicht nichts weiter, als auf die Lernfähigkeit des Kanzlers zu vertrauen. Immerhin lautet ja dessen neuester Lieblingsspruch: „Wir haben verstanden.“ R. Misik
Die zentrale Frage ist: Was heißt Regierung im Zeitalter der Globalisierung?
Die je verschiedenen Antworten lassen sich nicht leicht in Deckung bringen
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